Wie die Samtene Revolution die Sicht auf den Prager Frühling verändert hat
Am 21. August 1968 marschierten die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein. Es war das Ende des Prager Frühlings. Die beiden folgenden Jahrzehnte waren geprägt von politischer Stagnation und der bedingungslosen Hinwendung an den großen Bruder in Moskau. Doch die Ereignisse und die Ideen des Reformversuchs von 1968 hatten ihre Spuren in der tschechoslowakischen Gesellschaft hinterlassen. Im Herbst 1989 schüttelte sie endlich das kommunistische Regime ab: die Samtene Revolution. Gibt es eine direkte Entwicklungslinie vom Prager Frühling zur Samtenen Revolution, von 1968 zu 1989? Damit hat sich der deutsche Historiker und Soziologe Jürgen Danyel beschäftigt. Er stammt aus einer deutschen Familie in Böhmen und hat als Kind 1968 den Einmarsch der Panzer in Karlovy Vary / Karlsbad selbst erlebt. Heute ist Danyel stellvertrender Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Herr Danyel, ein Foto aus der Zeit der Samtenen Revolution zeigt Studenten mit gerade fertig gestellten Plakaten. Auf allen Plakaten stehen die beiden Jahreszahlen 68 und 89. Wenn man die Plakate um 180 Grad dreht wird aus der 68 die 89 und umgekehrt. Die Studenten ziehen hier eine ganz eindeutige Parallele zwischen 1968 und 1989? Was ist dran an einer solchen Parallele, an einer solchen Auslegung der Geschichte?
„Die Bezugnahme auf den Prager Frühling war für die Studenten 1989 vor allen Dingen symbolisch. Man hat sich erinnert an die Aufbruchsituation von 1968 während des Prager Frühlings. Damals ging es ja auch darum verkrustete gesellschaftliche Strukturen aufzubrechen und neue Entwicklungen in Gang zu setzen. Und das war den Studenten präsent. Eine Rolle gespielt hat natürlich auch ein bisschen jene von außen auch so deutlich sichtbare Protestkultur von 1968, die sich mit viel Fantasie den Besatzern mit Graffitis, mit Plakaten und selbstgemachten Zeichnungen in den Weg gestellt hat - insbesondere dann in den ersten Tagen nach dem Einmarsch. Das bildete eine zusätzliche Motivation für die Situation dann im Herbst 1989.“Alexandr Dubček war das Gesicht des Prager Frühlings. Er taucht im November 1989 plötzlich wieder wie aus dem Nichts auf und wäre sogar fast Präsident geworden. Spricht das nicht auch für eine ganz besondere Nähe zwischen den Ereignissen von 68 und 89?
„Diese Rückkehr der Protagonisten des Prager Frühlings hatte, glaube ich, eine sehr wichtige legitimatorische Funktion für die Oppositions- und Protestbewegung im Herbst 1989. Nun muss man ja wissen, dass Dubček und andere führende Vertreter des Prager Frühlings für lange Jahre aus dem öffentlichen Leben verschwunden waren. Ein großer Teil von ihnen ist ins Ausland gegangen, ist emigriert.
Zum ersten Mal konnten eben [im Herbst 1989]die Vertreter des Prager Frühlings wieder in der Öffentlichkeit auftreten und das bildete ein wichtiges, integrierendes Element für die Bewegung zur Veränderung. Und insofern sieht man dann Dubček auch gemeinsam mit Václav Havel bei einem Treffen des Občanské Forum (Bürgerforum) im Činoherní klub. Und dann gab es natürlich jene berühmte Szene auf dem Balkon des Prager Melantrich-Verlagshauses, wo am 26. November 1989 die Masse auf dem Wenzelsplatz den Rücktritt des KP-Chefs bejubelt.“Das Schlagwort des Prager Frühlings war der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Wann ist der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ denn dann gestorben? Erst in der (Nach-)Wendezeit 89 oder war er schon lange vorher tot?
„Das Jahr 1989 spielt natürlich auch insofern eine Rolle, dass zum ersten Mal in der tschechoslowakischen Gesellschaft auch wieder über den lange totgeschwiegenen und als Kontrarevolution verdammten Reformversuch des ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz’ geredet wird. Es ging natürlich in diesen Herbsttagen und danach um Fragen wie: Wer war verantwortlich für den Einmarsch am 21. August 1968? Wer hat die Säuberungen in der Gesellschaft, zu verantworten, die ja für viele mit sehr einschneidenden Erfahrungen verbunden waren? All diese weißen Flecken der Geschichte wurden verhandelt und es hat auch sehr schnell eine kritische Diskussion über den Prager Frühling gegeben.
Es wurde deutlich, dass in vielem die Reformen inkonsequent waren, dass auch Dubček und andere führenden Kommunisten doch gewisse Ängste hatten, die Zügel völlig loszulassen. Und in dem Maße hat sich auch eine sehr kritische Position gegenüber dem Prager Frühling in der tschechoslowakischen Gesellschaft durchgesetzt. Dann muss man ja auch noch wissen, dass viele der ehemaligen Protagonisten [des Prager Frühlings] mit dem Einmarsch die Erfahrung in den Knochen hatten, dass dieser Sozialismus nicht reformierbar ist, dass diese Gesellschaft nicht zu verändern ist, und immer wenn das versucht wird, wird das Ganze mit Waffengewalt niedergewalzt. Das ist eine Erfahrung, die sich in der tschechoslowakischen Gesellschaft in der Zeit der Normalisierung tief eingeprägt hat und insofern war, wenn man es so will, der ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz’ als Projekt und als Utopie schon lange vor dem Jahr 1989 gestorben.“Ein konkretes Erbe von 1968 sind aber die Subkulturen in der Tschechoslowakei gewesen: Künstler, Musiker etc. Sie mussten während der so genannten Normalisierung, die der Niederschlagung des Prager Frühlings folgte, in den Untergrund. Und als solcher, als so genannter „Underground“ blühten diese Subkulturen regelrecht auf, auch in dieser Zeit der politischen und gesellschaftlichen Einöde der 70er und 80er Jahre. Wie viel von der Idee dieses „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ haftete diesem Underground eigentlich an?
„Diese ganze Kulturbewegung - der Underground, die Musikszenen, die sich im opositionellen Kontext zusammengefunden haben in den 70er und 80er Jahren - die hatten nicht so sehr mit dem Reformprojekt von Dubček und Co. zu tun, sondern sie sind im Kontext einer gesellschaftlichen Entwicklung während des Prager Frühlings entstanden. In dem Maße wie die Zensur abgeschafft wurde und sich demokratische Verhältnisse in der Gesellschaft durchsetzten, haben sich in verschiedenen Bereichen neue Entwicklungen Bahn gebrochen, unabhängig von den Reformprojekten der kommunistischen Führung. Die Gesellschaft hat sich gegenüber dem Westen geöffnet. Der ganze Bereich der Popkultur, der Jugendkultur, ist auch über die Grenzen gewandert.
Die Tschechen konnten ins Ausland fahren, und haben gesehen was in anderen Ländern los war. Es gab einen regelrechten kulturellen Austausch. Diese Entwicklung war auch durch den Einmarsch und die restriktive Kulturpolitik, die sich dann während der sogennanten Normalisierung durchsetzte, nicht mehr völlig zurückzudrehen. Sie war gewissermaßen in den Tiefen der Gesellschaft verankert und das hat dann dazu geführt, dass sich insbesondere die junge Generation ganz stark vom kommunistischen Regime in den 70er und 80er Jahren entfremdet hat und ihr kulturelles Leben eigentlich in ganz anderen Bereichen der Gesellschaft ausgelebt hat, auch wenn viele der Artikulationen nicht unbedingt in erster Linie politisch waren.“
Werfen wir doch noch einen Blick in die Gegenwart. Die Idee von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wurde 1968 nicht vollendet. 1989 hat sie kaum noch eine Rolle gespielt. Trotzdem wurde vor zwei Jahren zum 40. Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings mit einem unglaublichen medialen Aufwand daran erinnert. Was bedeutet denn die Idee des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ noch heute?
„Ich glaube, es geht darum, den Prager Frühling in einem breiteren Sinne zu verstehen. Zum einen, denke ich, hat die Entwicklung von 1968 – diese Bewegung auch zur Reform der Gesellschaft – einen Platz in der Geschichte europäischer Demokratiebewegungen verdient. Es macht Sinn darauf zu verweisen, dass es eben nicht nur um Veränderungen an der Spitze des kommunistischen Herrschaftssystems ging, sondern dass sich die tschechoslowakische Gesellschaft 1968 empanzipiert und sich befreit hatte, und dass eine ganz eigene Entwicklung mit sich durchgemacht hat, die durch ganz unterschiedliche Gruppen und Akteure getragen wurde. Mit unserem Blick auf den Prager Frühling nehmen wir mehr und mehr diese gesellschaftlichen und auch kulturellen Veränderungen in den Blick.
Die wirken natürlich noch bis heute. Und es wird wieder daran erinnert, dass insbesondere das tschechische Kulturleben damals internationale Geltung gehabt hat, dass viele Beziehungen damals zwischen Ost und West hergestellt wurden, die zum Teil auch die dunkle Zeit der Normalisierung überlebt haben. All das sind Entwicklungen, die zum Erbe des Prager Frühlings gehören und die nicht abgegolten sind mit der Feststellung, dass das Reformprojekt eines ‚Sozialismus mit menschlichem Antzlitz’ jetzt erst mal nicht mehr auf der historischen Tagesordnung steht und gescheitert ist. Diese anderen Entwicklungen aber verdienen es erinnert zu und viel stärker als bisher wahrgenommen zu werden. Das erklärt vielleicht auch ein wenig dieses neu erwachende Interesse, auch in Tschechien, am Prager Frühling.“Herr Danyel, Vielen Dank für das Gespräch!
„Bitte, gern geschehen.“