Prager Frühling unter Sowjetpanzern begraben: Lektion für westliche Intellektuelle
Vor etwa zwei Wochen wurde in Tschechien der Besetzung der ehemaligen Tschechoslowakei vor 40 Jahren gedacht. Unter den rollenden Panzern endete damals die weltweit als Prager Frühling bezeichnete Reformbewegung. Ihre Träger schrieben sich das Motto „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ auf die Fahne. Trotz großer Euphorie über das plötzliche Tauwetter im Lande haben viele nicht an den erfolgreichen Ausgang der Reformbewegung hierzulande geglaubt, vielmehr aber gehofft. Auch heute stößt man immer noch auf recht unterschiedliche Bewertungen des damaligen Geschehens, wie es bereits 1969 bei der Polemik zwischen Milan Kundera und Václav Havel der Fall war. In der heutigen Ausgabe der Sendereihe „Heute am Mikrophon“ bringen wir ein Gespräch mit dem ehemaligen tschechoslowakischen und tschechischen Botschafter in Bonn und Wien, Jiří Gruša.
Elf Monate politische Krise und zugleich die interessanteste Zeitperiode in der Geschichte der ehemaligen Tschechoslowakei, in der es keine Sieger gab – so sieht der international bekannte tschechische Schriftsteller und Diplomat Jiri Gruša den so genannten Prager Frühling. Gorbatschow und seine Perestroika bezeichnet er als einen verpäteten Versuch, auf einem Reformweg etwas Ähnliches zu erreichen. Das „formlose“ sei aber nicht zu „re-formieren“, sagt Gruša gerne mithilfe eines Wortspiels. Der Ausgang des Prager Frühlings hatte bekanntlich nicht nur für die Tschechoslowakei allein weitreichende Konsequenzen. Immerhin, als „Versuchskaninchen der europäischen Zukunft“ waren die Tschechen nicht schlecht, sagte Jiří Gruša mit einem Schuß Ironie in einem Interview.
Über Europa rollte 1968 eine Welle der Revolution. Wie haben Sie persönlich die damaligen Ereignisse wahrgenommen?
„Ehrlich gesagt haben wir damals unsere eigene Lage intensiver wahrgenommen, als die in den umliegenden Ländern. Ich durfte 1967 das erste Mal in den Westen, nach Westberlin, fahren. Dort musste ich plötzlich feststellen, dass sich da eine ganz andere Mentalität entwickelte, die eigentlich das, was wir so bezweifelten, begeistert wahrgenommen hat. Die jungen Leute von der Technischen Universität in Berlin fuhren nicht nach Prag, obwohl das ziemlich einfach war. Es waren ja nur 250 oder 300 Kilometer. Die flogen aber lieber nach Nicaragua, anstatt sich den Sozialismus bei uns anzuschauen. Das war der Unterschied zwischen uns und den Westlern. Es war ähnlich wie bei uns eine Explosion der jungen Generation, die sich ebenso wie wir mit den verkrusteten Verhältnissen in ihrem Land beschäftigte. Nach der Invasion und der Besetzung von Prag war das natürlich auch eine Lektion für die Wessis. Endlich haben sie gesehen, dass der Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz eine Illusion war. Wenn man so etwas behauptet, dann sagt man eigentlich: ´Der Sozialismus hat ansonsten eine tierische Fratze. Zehn Jahre nach dem Prager Frühling war der Westen nicht mehr rot, sondern grün.“
Daher haben Sie auch heute bei der Diskussion auf dem Prager Schriftstellertreffen gesagt, dass der Prager Frühling eine brüderliche Hilfe für die linken Intellektuellen gewesen sei. Noch einmal kurz zurück zu der Reise nach Westberlin. Sind Sie damals mit Rudi Dutschke zusammengetroffen?
„Damals noch nicht. Aber ich wusste schon, dass es ihn gab. Beim Treffen mit den jungen Leuten von der Technischen Universität ereignete sich Folgendes: Stellen Sie sich vor, eine Dame hat mich gefragt, was die Aufgabe der Literatur sei. Ich habe mir gedacht: Was? Die Aufgabe der Literatur? Das klang wie eine Überschrift von der Titelseite aus Rudé právo, dem Parteiorgan der tschechoslowakischen Kommunisten. Die Literatur hat doch nur eine Aufgabe, und zwar diejenige, die man sich selbst individuell stellt und beantwortet. Und dann ist einer der Studenten aufgestanden und hat gesagt: ´Junger Mann, was reden Sie da für einen bourgeoisen Stuss?´ Ich war damals das erste Mal im Westen, vorher wurde ich schon einmal strafrechtlich verfolgt. Wir haben hart diskutiert. Nach dieser Diskussion, es war zwanzig Minuten vor zehn Uhr abends, musste ich zurück nach Prag, weil ich die Ausreisegenehmigung nur für 24 Stunden bekommen hatte. Um 0.00 Uhr musste ich wieder zurück sein. Wir haben den Saal verlassen, die Stundenten sind in ihre Autos gestiegen und waren schnell weg. Ich stand alleine auf der Treppe und war total verdattert, denn bei uns ein Auto zu haben, war nicht einmal den Söhnen der Parteibosse erlaubt. Ich habe mir gesagt: In dieser Welt stimmt etwas nicht.“
Das war also in 1967. Im Januar 1968 kam es zu einem Umsturz. Präsident Novotný wurde abgesetzt und in die Position des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) Alexandr Dubček emporgestiegen.„Er war sozusagen ein neues Gesicht für die kommunistischen Verhältnisse. Er hatte nicht so ein Mördergesicht wie die alten Stalinisten. Es lag an seiner Austrahlung, außerdem hat er hat auch niemanden ermordet oder einen Befehl in diesem Sinne erteilt. Da war so eine große Kraft in seinem Gesicht, Charisma nennt man das heute. Aber gleichzeitig war er auch kein begabter Politiker. Er war ein Zufallsprodukt der Streitigkeiten der damaligen politischen Situation. Politisch war er der Zeit nicht gewachsen. Es kam zu einer seltsamen Entwicklung, in der auch Zufälle eine Rolle spielten und den so genannten Prager Frühling herbeiführten.“
Sehen Sie jetzt Dubček in einem klareren Licht mit 40 Jahren Zeitabstand oder auch schon 1968?
„Ich habe ihn schon damals als ein Zufallsprodukt betrachtet und als jemanden, der etwas hineinbringt, was diese unerwartete Entwicklung ermöglicht. Er war für mich keine große Persönlichkeit, und für meine ganze Generation auch nicht. Das war der Unterschied zwischen uns und den Wessis. Nachdem er im Herbst 1968 die so genannten Knüppelgesetze unterschrieben hatte, war er politisch ruiniert. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht glücklich gewesen wären, als er 1989 wieder aufgetaucht war. Als Botschafter habe ich später Dubček, der Parlamentspräsident wurde, getroffen und habe dann zwei oder drei Mal mit ihm auch gesprochen. Bei dieser Gelegenheit habe ich dann meine Gefühle aus der Jugend bestätigt bekommen. Es war etwas Spontanes in ihm, aber keine politische Reife. Und eigentlich war das Göttliche an der ganzen Geschichte die Unvorhersehbarkeit der gesamten Entwicklung um den Prager Frühling.“
Haben Sie vor der sowjetischen Invasion 1968 daran gedacht, wie der ganze politische Prozess enden könnte?
„Jeder hat gespürt, dass etwas in der Luft hing. Aber meine Generatiom und ich selbst auch, wir haben die Russen für klüger gehalten. Diese Invasion war das Dümmste, was sie machen konnten, denn die hat sie letztendlich ruiniert. Es hat natürlich gedauert, aber es war eine imperiale Dummheit und das verzeiht die Geschichte nicht.“
Worin sehen Sie persönlich den Vedienst des Prager Frühlings und sein Vermächtnis?
„Ich habe es ja schon gesagt: Es war die brüderliche Hilfe an die westlichen Intellektuellen, endlich mal mit dem Unfug der angestrebten Reparatur des Kommunismus aufzuhören. Sie sind nicht rot, sondern grüner geworden. Und das war schon eine andere, intelligentere Ideologie. Und Dutschke war, wenn ich mich richtig erinnern kann, später auch nicht mehr rot sondern grün.“
Was sagen Sie dazu, wenn Sie hierzulande am 1. Mai einen Umzug mit jungen Leuten sehen, die rote Fahnen mit dem Hammer- und Sichel-Emblem schwenken?
„Wir sind eine dumme Nation. Das heisst, wir sind die einzige Nation der Welt, die sich 1948 einen sowjetischen Sozialismus mit dem Stimmzettel in der Hand ins Haus geholt hat. Das war kein Zufall, weil es unsere alte Tradition ist. Ich wundere mich nicht darüber. Ich wundere mich nur, dass sie so zahlreich sind.“
Sehen Sie da eine Gefahr für die Zukunft?
„Nein, denn wir sind endlich Teil einer intelligenteren Völkergemeinschaft.“