Balkon der Möglichkeiten

Hans-Dietrich Genscher steht vor der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag, 30. September 2009 (Foto: ČTK)
0:00
/
0:00

Auf den Tag genau nach zwanzig Jahren war die deutsche Botschaft in Prag wieder voll besetzt. Diesmal nicht mit Flüchtlingen, sondern mit Festgästen, im Gedenken an den 30. September 1989. Auch einer der Hauptakteure von damals ist wieder gekommen: Hans-Dietrich Genscher. Vor zwanzig Jahren war er als Außenminister der Bundesrepublik auf den Balkon getreten und hatte dort einen der berühmtesten Sätze der deutschen Nachkriegsgeschichte gesprochen.

Hans-Dietrich Genscher steht vor der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag,  30. September 2009  (Foto: ČTK)
Hat eigentlich schon jemand die Kulturgeschichte des Balkons geschrieben? Natürlich hat jemand. Der Balkon als Oase des Rückzugs im Großstadtgetriebe; der Balkon als Ort der Verkündung, wo Staatsmänner Republiken ausrufen oder mit frisch unterschriebenen Verträgen winken; der Balkon als erhabener Platz der Geliebten, besungen vom Liebenden unten, dem oftmals ein unsichtbarer Dritter die richtigen Worte zuflüstert.

Am 30. September 1989 stand Hans-Dietrich Genscher gemeinsam mit dem damaligen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters auf dem Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag und sprach zu tausenden ostdeutschen Flüchtlingen, die vom Garten hinaufblickten, voller Sehnsucht nach einer guten Nachricht aus Bonn. Und genau die hatte Genscher auch im Gepäck:

„Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Der Rest ging unter im frenetischen Jubel der Menge. Einen unsichtbaren Dritten, der ihnen die richtigen Worte zuflüstert, brauchten die Flüchtlinge nicht. Die pure Freude über die wieder gewonnene Zukunft bahnte sich tosend ihren Weg. Kaum jemand hat deshalb Genschers Satz zur Gänze gehört. Aber oben auf dem Genscher-Balkon, da ist er verewigt, gegossen in Buchstaben auf einer Tafel an der Brüstung.

Wenn Sie also zu denen gehören, die nicht wissen, was Genscher da eigentlich gesagt hat – Radio Prag bringt die ungekürzte Fassung: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.“

Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag,  30. September 1989  (Foto: ČTK)
Was darüber hinaus noch alles möglich geworden ist, das konnten aber selbst Genscher und Seiters nicht erahnen. Dass es etwa nur ein Jahr später zur deutschen Wiedervereinigung kommen sollte. Oder dass sie zwanzig Jahre später auf den Balkon zurückkehren würden, nach Prag, in die Hauptstadt eines demokratischen Landes und Mitglieds der Europäischen Union.

Und was wird in Zukunft noch alles möglich sein? Wir wissen es nicht, und Genscher weiß es auch nicht. Aber wer Genschers Prager Rede am 30. September 2009 gehört hat, getragen von beinahe jugendlichem Elan und von Begeisterung für die Einigung Europas, der konnte spüren: Zumindest Genscher traut den Balkonen der Zukunft noch so einiges zu. Und bestimmt vertraut er dabei nicht nur auf die Leute oben hinter der Brüstung, sondern vor allem auf die anderen unten im Garten.