Bayerisch-böhmische Familiengeschichte in Fotos

Foto: Václav Šváb, DEPO2015

Die Münchner Fotografin Anne Erhard zeigt in ihrer neuesten Ausstellung in Pilsen ihre Familiengeschichte.

Foto: Václav Šváb,  DEPO2015
Mittelgroße Schwarzweißaufnahmen, aber auch Fotografien aus dem Familienarchiv und einige persönliche Dokumente. Dies alles zeigt die Münchner Fotografin Anne Erhard in ihrer neuesten Ausstellung, in der sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte befasst. Sechs Wochen lang hat die junge Künstlerin während eines Aufenthaltes in Plzeň / Pilsen die Ausstellung zusammengestellt. Seit Freitag ist sie in der Kreativzone im Depo 2015 zu sehen. Die Ausstellung mit dem Titel „Wo der Holunder wächst“ wurde im Rahmen eines bayerisch-böhmischen Festivals eröffnet. Martina Schneibergová und hat nach der Vernissage mit Anne Erhard gesprochen.

Frau Erhard, wie sind Sie auf die Idee zu der Ausstellung gekommen? Und wie entstanden die Fotos, die hier gezeigt werden?

Anne Erhard: Josef Erhard  (Foto: Anne Erhard)
„Die Fotos sind in einem sehr kurzen Zeitraum dieses Jahres entstanden. Aber die Idee ist über ein Jahr alt. Das ganze Projekt ist aus meinem Abschlussprojekt an der Uni hervorgegangen. Das hatte sich um den Wald gedreht. Ich habe verschiedene Wälder in Deutschland und in England fotografiert und bin dabei auf meine Familiengeschichte im Böhmerwald gestoßen. Dann bin ich zum ersten Mal nach Tschechien in das Dorf gefahren, aus dem mein Großvater stammte. Ich habe die Ruinen fotografiert. Als ich dieses Projekt abgeschlossen hatte, habe ich weitere neue Details der Familiengeschichte gefunden. Somit kam dann mehr Material für ein neues Projekt zusammen.“

Haben Sie Ihren Großvater noch erlebt?

„Nein. Er ist mit 21 Jahren aus Böhmen weggegangen und hat noch 20 Jahre in Deutschland gelebt. Er starb, als mein Vater ein kleines Kind war. Auch mein Vater kannte ihn nicht mehr. Der Großvater stammte aus einem kleinen Dort in der Nähe von Krumau.“

Anne Erhard: Moldavitmine  (Foto: Anne Erhard)
Wie stellen Sie die Familiengeschichte in der Ausstellung dar? Können wir eine kleine Führung durch die Schau machen?

„Die Hauptgeschichte dieses Projektes sind zwei Reisen in zwei Richtungen: einmal die Reise meines Großvaters aus dem böhmischen Krumau nach Deutschland, wo die Familie in einem Dorf angesiedelt wurde, das sich in der Mitte eines Meteoritenkraters befindet. Dieser Meteorit ist vor ungefähr 14 Millionen Jahren gefallen und hat diesen Krater entstehen lassen. Es ist aber der Meteorit, aus dessen Einschlag der Moldavit entstanden ist. Moldavit ist ein in Böhmen sehr bekanntes Mineral, das auch für Schmuck benutzt wird. Moldavit lässt sich aber nur in Tschechien finden. Er ist durch den Einschlag entstanden, aber durch den Winkel auf das Gebiet des heutigen Tschechien geschleudert worden. Ich war interessiert an diesen zwei Geschichten, die zeitlich sehr weit auseinander liegen, sich aber gegenseitig kreuzen.“

Wie sind Sie darauf gestoßen?

Anne Erhard: Nachthimmel  (Foto: Anne Erhard)
„Ich habe die Geschichte mit dem Krater gehört, nachdem ich schon in dem Dorf in Böhmen war. Ich habe dann mehr recherchiert und gefunden, dass es der Meteorit war, der den Moldavit hat entstehen lassen. Ich fand, dass diese zwei Geschichten sehr symbolisch sind für die Reise, die meine eigene Familie unternommen hat.“

Haben Sie Fotografie studiert?

„Ja, in London. Letztes Jahr habe ich an der University of Arts meinen Bachelor abgeschlossen und wohne jetzt in Berlin. Ich habe an diesem Projekt weiter gearbeitet und überlege jetzt, weiter zu studieren.“

Können Sie die Bilder näher beschreiben? Womit beginnt die Ausstellung?

„Sie fängt mit Bildern aus dem Krater an. Es gibt da Fotos aus der Nähe des Hauses meiner Familie sowie weitere Blicke. Die Bilder sind vermischt mit Archivmaterialien, die ich während meiner Recherchen gesammelt habe. Das reicht von einer handschriftlichen Adresse des alten tschechischen Hauses bis zu Postkarten und Bildern, die meine Familienmitglieder aufgehoben hatten. Dann sind hier Bilder von Objekten, die ich während des Projektes aufgesammelt habe. Hier ist beispielsweise ein Bild von meinem Großvater zu sehen, das aus dem Archiv stammt.“

Anne Erhard: Schönfelden 6 II  (Foto: Anne Erhard)
Woher kommt das Pferd?

„Das Pferd ist ein böhmisches Porzellan der Marke Royal Dux. Es hat mich angesprochen, weil es sehr erschreckt aussieht, als ob es von dem Meteoriten überrascht wurde. Auf diesem Foto ist eine Moldavit-Mine zu sehen. Es ist eigentlich nur ein wahrscheinlich illegal im sandigen Boden gegrabenes Loch, denn bis heute suchen Hobbyforscher nach Moldaviten.“

Zu sehen ist auch das Foto eines Denkmals. Wo steht das Denkmal?

„Das ist ein Denkmal für sowjetische Truppen in Berlin. Mein Großvater hatte vier Brüder, drei von ihnen sind in Russland vermisst und gestorben. Mir hat dieser Ausschnitt vom Denkmal, auch wenn es sozusagen für die andere Seite errichtet wurde, gefallen, um diesen Teil der Familiengeschichte auszudrücken.“

Wie heißt das Dorf, aus dem Ihr Großvater stammte?

„Es heißt auf Deutsch Schönfelden, auf Tschechisch Osí. Die meisten Dörfer wurden komplett verlassen, mittlerweile sind die meisten auch komplett verschwunden. Das Dorf lag bei Kalsching (Chvalšiny, Anm. d. Red.), wo es ein Militärsperrgebiet gab. Für uns ist es ein Glück, denn die Ruinen des Hauses sind noch erhalten, es gab dort einen Truppenübungsplatz. Da sieht man auch Einschusslöcher in den Mauern.“

Die Ausstellung „Dort, wo Holunder wächst“ ist im Café des Depo 2015 in Pilsen zu sehen, sie läuft bis 30. Oktober. Das Café ist täglich von 9 bis 19 Uhr geöffnet.

Die Ausstellung heißt „Dort, wo Holunder wächst“. Bezieht sich dies auf das verschwundene Dorf?

„Im Prinzip ja. Für mich war der Gedanke, die Ausstellung nach einem Phantasieort zu benennen, den man nie erreicht, aber den man sich aus den Fotografien zusammenbasteln kann. Der Titel stammt aus einem Gedicht, in dem das Innere einer Wunde beschrieben wird. Im Prinzip ist dieses Kapitel der Geschichte immer noch eine offene Wunde, weil es von beiden Seiten noch nicht ganz behandelt wurde.“

Mehr über die Fotografin erfahren Sie unter www.anneerhard.com