Benes-Dekrete

Milos Zeman

Von Silja Schultheis und Robert Schuster.

Bereits in der letzten Woche haben wir in unserer Medienrubrik ausführlich über die jüngsten verbalen Entgleisungen des tschechischen Ministerpräsidenten Milos Zeman berichtet. Nur zu Erinnerung: Zeman bezog während einer kurzen Israel-Visiste mehrmals Stellung zum Nahost-Konflikt. Im Gespräch mit der Zeitung Haaretz meinte der Premier u.a., die Palästinenser verfolgten gegenüber Israel ähnliche terroristische Ziele, wie seinerzeit die Sudetendeutschen im Verhältnis zur Tschechoslowakei, aus der sie nach 1945 vertrieben worden waren. Sofort hagelte es Kritik von allen Seiten, einige arabische Regierungen ließen kurzfristig bereits fest vereinbarte Besuche Zemans platzen. Kritik kam auch von der EU, die dem Premier mangelnde demokratische Reife attestierte.

Kaum hat sich die Empörung über Zemans Äußerungen ein wenig gelegt, brauten sich über Prag wieder Gewitterwolken zusammen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bezeichnete während einer Anhörung vor dem Europa- Parlament die s.g. Bene-Dekrete, also jene Gesetzesnormen, die nach 1945 zur Grundlage für die Vertreibung der deutschen und ungarischen Minderheit wurden, als unvereinbar mit der europäischen Rechtsordnung. Während Vertriebenen-Verbände aus Deutschland und Österreich seit Jahren deren Aufhebung fordern, argumentierte die tschechische Seite stets damit, dass ein solcher Schritt unabsehbare Folgen für die Rechtssicherheit hätte. Außerdem würden diese Normen heute keine rechtlichen Folgen mehr haben, war bisher die Linie Prags. Auch Premier Zeman betonte in der Vergangenheit stets, die Dekrete seien "totes Recht".

Kein Wunder, dass sich auch die tschechischen Zeitungen eingehend mit dem Thema der Bene-Dekrete befassten. Die Zeitung Lidové noviny widmete etwa vergangenen Donnerstag diesem Thema unter dem Titel "Die Büchse der Pandorra steht weit offen" ihren Hauptkommentar. Dessen Autor Jiøí Loewy kehrt dabei zu den Ursprüngen der jüngsten Verstimmungen zurück, wenn er meint:

"Lange ging es nur um eine regionale Haderei, die an Europa vorbeiging, denn es war lediglich ein tschechisch- österreichischer Streit. Nach und nach kamen aber immer neue Ressentiments hinzu, womit sich der ursprüngliche Konflikt ausdehnte. Und als ob das AKW Temelin nicht schon reichen würde, kamen auch noch die Benes-Dekrete hinzu. Die Front wurde breiter, indem zunächst Stoiber und dessen Verpflichtungen gegenüber den Sudetendeutschen ins Spiel kamen. Und als ob das nicht schon genug wäre, kamen noch Budapest und Brüssel hinzu. Die Büchse der Pandorra steht also weit offen."

Auch die ansonsten gegenüber der Deutschland-Politik der tschechischen Regierungen sehr kritische Zeitung Pravo brachte zum Thema einen relativ nüchternen Kommentar. Unter der Überschrift "Europa funktioniert" meint Jiøí Hanák:

"Es sieht so aus, als ob Tschechien wieder in die Zwischenkriegszeit zurückgleiten würde. Auch damals hatten wir in der Nachbarschaft weit und breit keinen Freund. Niemand hatte uns gern, außer Frankreich, aber auch Frankreich hat uns dann nicht mehr gern gehabt."

Hanak gibt jedoch die Schuld für diese unangenehme Lage und die angespannten Beziehungen nicht dem Ausland, sondern sieht die Gründe dafür im Inneren:

"Leider haben wir diesen Schlammassel selber zu verantworten. Wir hätten damit rechnen sollen, dass die Benes- Dekrete sich zu Spielkarten in den Händen einiger Länder umwandeln könnten. Das tschechische Parlament hatte genügend Zeit für eine Geste des Entgegenkommens. Es hätte z.B. die Dekrete feierlich als erloschen deklarieren können. Und auch wenn sie aus heutiger Sicht nicht von Beginn an als ungültig erklärt werden können, hätte das Parlament feststellen können, dass es sich aus heutiger Sicht um Akte des Unrechts handelt. Bei all dem gibt es jedoch auch eine gute Nachricht zu vermelden: Die gewöhnlichen Beziehungen mit Deutschland, Österreich und Ungarn haben darunter nicht gelitten. Das bedeutet also, dass dieses Europa wahrscheinlich doch funktioniert."

Mit dem deutsch-tschechischen Verhältnis beschäftigt sich schon seit langem auch der Journalist Lubo Palata. Der frühere Deutschland-Spezialist der auflagenstärksten tschechischen Tageszeitung Mladá fronta Dnes befasst sich auch nach seinem Abgang zur Wirtschaftszeitung Hospodáøské noviny sehr intensiv mit dem Thema Bene-Dekrete. Als Mitteleuropa-Korrespondent der Hospodáøské noviny mit ständigem Sitz im slowakischen Bratislava, verfolgt er die Diskussion natürlich aus erster Hand. Radio Prag fragte ihn deshalb, ob denn die Bene-Dekrete nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge eine Hürde auf dem Weg Tschechiens in die EU darstellen könnten:

"Ich meine, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits klar ist, dass die Bene-Dekrete wahrscheinlich nicht Bestandteil der Beitrittsgespräche Tschechiens sein werden. Alle Seiten nehmen jetzt an, dass Tschechien letztendlich mit den Dekreten in die Union aufgenommen wird. Unterschiede gibt es jedoch in der Frage, welche Entwicklung das Ganze dann nehmen wird. Prag ist der Meinung, dass damit die Angelegenheit erledigt sein wird, die deutschen und österreichischen Vertriebenenverbände vertreten jedoch die Ansicht, dass erst dann richtig über diese Dekrete verhandelt werden kann, weil sie dann auf ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Recht überprüft werden könnten."

Spätestens seit dem Vorstoß der rechtsliberalen ODS, den Bestand der Dekrete mit Hilfe einer speziellen Klausel im Beitrittsvertrag zur EU zu sichern, hat die ganze Debatte um diese Rechtsnormen aber auch eine starke innenpolitische Note bekommen. Die Regierung hat zwar diese Idee, ähnlich wie Forderungen nach einem härteren Vorgehen in dieser Angelegenheit abgelehnt, sie wird aber wahrscheinlich in naher Zukunft nicht mit neuen Initiativen kommen. In knapp vier Monaten finden nämlich in Tschechien Wahlen statt und das legt die Vermutung nahe, dass die Parteien versucht sein könnten gerade in Bezug auf das Verhältnis zu den Nachbarländern Deutschland und Österreich Stärke zu demonstrieren. Droht also aus den Dekreten eines der Hauptthemen im Wahlkampf zu werden? Lubos Palata meint dazu abschließend:

"Dieses Gefühl bekomme ich auch langsam. Eine andere Sache ist aber die, dass dieses Thema für die Mehrheit der Bevölkerung uninteressant ist. Erst durch die intensive Berichterstattung in den Medien wurde das alles hochgeschaukelt. Im Grunde genommen geht es ja darum, dass sich mit den Dekreten in erster Linie Juristen oder Historiker befassen können, die über einen gewissen fachlichen Background verfügen - ich schätze, dass die breite Masse damit nichts anzufangen weiß. Viel hängt aber auch davon ab, ob die Gegenseite, d.h. Deutschland, Österreich und Ungarn, in den kommenden Monaten Öl ins Feuer gießen werden oder nicht."