Das größte Geheimnis der tschechischen Geschichte

„Königinhofer Handschrift“ und „Grünberger Handschrift“ (Foto: Ondřej Tomšů)

Seit 200 Jahren wird um die Echtheit der Königinhofer und der Grünberger Handschriften gestritten.

„Königinhofer Handschrift“ und „Grünberger Handschrift“  (Foto: Ondřej Tomšů)
Original oder Fälschung? Seit 200 Jahren stellt sich diese Frage, und zwar in Bezug auf die sogenannte „Königinhofer Handschrift“ und die „Grünberger Handschrift“. Die Pergamentblätter tauchten Anfang des 19. Jahrhunderts auf und galten als mittelalterliche Denkmäler des tschechischen Schrifttums. Sie sollten die Altertümlichkeit und Kultur der tschechischen Nation belegen. Die Manuskripte gehörten zu den erfolgreichsten und meistübersetzen Werke des 19. Jahrhunderts und inspirierten die Literatur, bildende Kunst und Musik. In der folgenden Sendung sprechen wir über die Handschriften mit dem Literaturwissenschaftler Dalibor Dobiáš von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.


Václav Hanka
Dieser Tage jährt sich ein wichtiges Ereignis zum 200. Mal. Was genau ist am 16. September 1817 geschehen?

„Im Jahre 1817 hat Václav Hanka, ein junger Slawist, Dichter und Publizist in Dvůr Králové nad Labem / Königinhof in Ostböhmen die sogenannte Königinhofer Handschrift gefunden. Heute zweifelt man meist nicht mehr daran, dass das Werk eine Fälschung war, die die der Tradition von James Macpherson und anderen Autoren folgte (der Schotte Macpherson grub 1760 die angeblich altgälischen „Gesänge des Ossian“ aus, Anm. d. Red.). Aber siebzig Jahre lang, also bis 1886, glaubte man trotz einiger Bedenken, dass diese Handschrift eines der ältesten Stücke der tschechischen Nationalliteratur ist. Diese Handschrift mit historischen und lyrischen Gesängen war daher sehr wichtig für das Geschichtsbild und für die nationale Identität der Tschechen im 19. Jahrhundert.“

Wie machte Hanka seine ‚Entdeckung‘, beziehungsweise seinen ‚Fund‘ damals öffentlich?

„Diese Handschrift mit historischen und lyrischen Gesängen war daher sehr wichtig für das Geschichtsbild und für die nationale Identität der Tschechen im 19. Jahrhundert.“

„Hanka hat einen Brief an Josef Dobrovský geschrieben, den wahrscheinlich größten Slawisten jener Zeit. Der Brief war – wie es damals häufiger der Fall war – zum Teil ein öffentlicher Brief. Der Text wurde bekannt, und die Gedanken Hankas waren auch in einigen Zeitungsartikeln zu finden. Außerdem hat Dobrovský, der als eine große Autorität galt, in seiner ‚Geschichte der böhmischen Literatur‘ mit Begeisterung über die Handschrift geschrieben. Ein Jahr später hat Hanka dieses angeblich mittelalterliche Manuskript auch herausgegeben.“

Heldentum der alten Tschechen

Wie sah diese Handschrift aus? Was enthielt sie?

Foto: Ondřej Tomšů
„Es waren Pergamentblätter, mit einer Größe von 12 Zentimetern. Der Text wurde mit dem Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts datiert. Es handelt sich um epische Gesänge und lyrische Lieder, die über das Heldentum der alten Tschechen im Kampf gegen ihre Feinde erzählen.“

Welche echten Werke der alten tschechischen Literatur waren Anfang des 19. Jahrhundert eigentlich bekannt?

„Heute ist offensichtlich, dass die Tschechen eine literarische Tradition haben, die weit zurückreicht. Und das auch im Vergleich mit anderen Slawen. Inzwischen wurden einige interessante Werke entweder gefunden, wie etwa die Legende über die heilige Katharina, oder neu analysiert und interpretiert. Aber in der Zeit von Hanka gab es Zweifel daran. In Prag bekannt waren zum Beispiel das tschechische Alexander-Lied aus dem 13. Jahrhundert und die Chronica Boemorum von Cosmas aus dem 12. Jahrhundert. Sie beinhalteten aber keine Modelle, auf denen die Tschechen ihre Identität im Sinne der Romantik hätten gründen können. In dieser Hinsicht waren die von Hanka gefundenen Gesänge über alte Helden, die Religion der alten Tschechen und ihre Tradition sehr wichtig.“

Josef Dobrovský  (Foto: Jan Vilímek,  Public Domain)
Wie waren die ersten Reaktionen auf die ‚Entdeckung‘ der alten Handschrift? Sie haben schon über Dobrovský gesprochen, wie reagierte die Gesellschaft auf den Fund?

„Es gab damals natürlich keine Gesellschaft im heutigen Sinne. Es handelte sich um eine Angelegenheit der Eliten, also der Slawistem, der jungen begeisterten Patrioten und Dichter. Und natürlich auch der Romantiker und Gelehrten im Ausland, die ihre eigenen nationalen Identitäten von anderen Kulturen abgrenzen mussten. Es herrschte eine große Begeisterung in Bezug auf die Königinhofer Handschrift. Ein Jahr später wurde dann eine angeblich noch ältere Schrift, die sogenannte Grünberger Handschrift gefunden. Sie wurde von einigen bis in die Zeit der mythologischen Fürstin Libussa datiert und berichtete über die ältesten slawischen Traditionen, also über die vorchristliche slawische Schrift und Rituale. Diese Handschrift hat im Gegensatz zur Königinhofer Handschrift auch einige negative Reaktionen hervorgerufen und wurde von Josef Dobrovský, also einer Slawistik-Autorität, sofort zur Fälschung erklärt.“

Meistübersetztes tschechisches literarisches Werk

Foto: Martina Klímová,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Sie sagen, die Gelehrten anderer slawischer Völker haben sich für diese Handschriften interessiert. Wie war das Interesse westlich von Böhmen, zum Beispiel in Deutschland beziehungsweise bei den Deutschböhmen?

„Das Interesse war groß. Große Namen wie Jakob Grimm, Johann Wolfgang von Goethe und andere interessierten sich dafür. Besonders die Königinhofer Handschrift hatte eine große Resonanz gefunden, nicht nur unmittelbar nach ihrer Entdeckung, sondern im ganzen 19. Jahrhundert. Es war das meistübersetzte tschechische literarische Werk dieser Zeit. Und sie gehört eigentlich bis heute zu den meistübersetzten Werken, obwohl die meisten Übersetzungen schon älter sind. Aber zum Beispiel der US-Amerikaner David Cooper hat die Handschrift erst kürzlich neu ins Englische übersetzt. Soviel ich weiß, gibt es auch eine japanische Übersetzung mancher Teile des Werkes, und die Handschrift ist immer noch ein Thema. Die Tschechen konzentrieren sich vor allem auf die Geschichte der Entdeckung, dass die Handschrift ein Geheimnis war. Wenig bekannt ist jedoch Tatsache, dass sie das meistübersetzte und am häufigsten herausgegebene Werk der tschechischen Literatur im 19. Jahrhundert war.“

Dalibor Dobiáš  (Foto: Archiv des Österreichischen Kulturforums in Prag)
In der Zeit der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert tauchten auch weitere Fälschungen auf. Warum wurden gerade diese beiden Handschriften so populär und so bedeutend? Hanka selbst hat ja noch andere Fälschungen geliefert.

„Das ist interessant. Nehmen wir den Fall Hanka und seine Fälschungen. Manche seiner anderen Falsifikate haben einen wissenschaftlichen Charakter. Es geht darin zum Beispiel um die bis heute diskutierte Frage, ob es eine kontinuierliche byzantinische, also ostchristliche Tradition in Böhmen gab. Diese Fragen waren für einen engeren Kreis der Wissenschaft bedeutend. Im Unterschied dazu tauchten die Königinhofer und die Grünberger Handschriften in einer Zeit auf, die für die neue Entwicklung der tschechischen Nationalliteratur sehr wichtig war. In den 1810er Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob Tschechisch eine eigenständige Schriftsprache ist, die auch für die moderne Literatur, zum Beispiel für Romane geeignet ist. Die Handschriften haben in dieser Schwellenzeit die Literatur und die Kultur der Tschechen wesentlich beeinflusst. Sie hatte dann auch eine große Wirkung in der Donau-Monarchie.“

Inspirationsquelle für Kultur des 19. Jahrhunderts

„Die Frage, wie es mit den Handschriften wirklich war, ist zum Teil noch offen. Die Autorschaft ist nicht hundertprozentig sicher.“

Welche Künstler ließen sich von den Handschriften für ihr eigenes Schaffen inspirieren?

„Man findet Spuren der Handschriften bei den bedeutendsten tschechischen Künstlern des 19. Jahrhunderts. Ich sage nur die Namen, die international bekannt sind: Mácha, Erben, Mánes, Smetana, Dvořák, Fibich und andere. Die Handschriften stießen auch in Europa auf ein großes Echo. Wir finden ihre Motive unter anderem bei Goethe, Mieckiewicz, Stifter oder Rimski-Korsakow.“

Sie sagen, dass heute nicht so sehr der eigentliche literarische Wert der Handschriften hervorgehoben wird, sondern dass man sich vor allem auf die Geschichte um Echtheits-Streit konzentriert. Wie hat sich dieser Streit entwickelt?

„Der Streit dauert bis heute, auch wenn nicht mehr so signifikant. Soviel ich weiß, werden die Manuskripte derzeit im Nationalmuseum wieder chemisch untersucht. Die Frage, wie es mit den Handschriften wirklich war, ist zum Teil noch offen. Die Autorschaft ist nicht hundertprozentig sicher. Der Streit um die Echtheit hat in seiner ersten Phase siebzig Jahre gedauert. Interessant war dabei, dass die Handschriften nicht nur ein wissenschaftliches Problem waren, sondern auch ein Symbol und Grundlage der tschechischen Nationalidentität. Eben von diesen Gesichtspunkten aus wurden sie angegriffen oder verteidigt. Die Angriffe einerseits dienten als Beweis, dass die Tschechen kein Recht auf ihre eigene Kultur hätten. Und andererseits wurde betont, dass die Schriftstücke eine Hochburg der nationalen Identität sind, die jeder echte Tscheche verteidigen müsse. Natürlich hat sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt. Einige Theorien, die Anfang des 19. Jahrhunderts möglich waren, waren nach dem Antritt des Realismus nicht mehr haltbar. Die entscheidende Phase kam in den 1880er Jahren, als die Handschriften von Tomáš Garrigue Masaryk und von anderen Wissenschaftlern angegriffen wurden. Sie wurden als ein Symbol einer romantisch-national begründeten Identität und Politik abgelehnt. Diese Kritik von Masaryk wurde dann später zum Mythos. Aber noch im 20. Jahrhundert wurden die Kritiker der Echtheit der Handschriften von tschechischen Faschisten attackiert.“

Streit um die Echtheit

Josef Linda  (Foto: Public Domain)
Wie ist Ihre Meinung? Sie haben ganz am Anfang gesagt, dass heute sicher ist, dass die Handschriften Fälschungen sind. Ihren Autor halten Sie aber wiederum für unbekannt.

„Als Wissenschaftler sollte man nicht viel spekulieren, aber ich würde eines sagen: Die Tschechen verbinden und betrachten die beiden Handschriften als Einheit. Man sagt, die Königinhofer und die Grünberger Handschriften sind ein Werk. Damit bin ich nicht einverstanden. Der Stoff und auch die Werte, die es in diesen beiden Handschriften gibt, sind unterschiedlich. Bereits Josef Dobrovský hatte behauptet, dass der Erfolg der ersten, der Königinhofer Handschrift die jungen Romantiker und Patrioten begeistert und aufgemuntert habe, noch weiter zu gehen und eine verrückte historische Hypothese auszusprechen. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Die Königinhofer Handschrift ist zweifelsohne eine große Leistung. Aus stofflicher, sprachwissenschaftlicher und poetologischer Sicht handelt es sich um ein großes Werk der tschechischen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts. Meine Hypothese lautet, dass man dieses Werk nicht nur mit einem Autor, wie zum Beispiel Václav Hanka, beziehungsweise nicht nur mit Hanka und seinem Freund Josef Linda verbinden kann. Ich glaube, dass es eine sehr komplizierte und kollektive Angelegenheit war. Einige Namen wurden in diesem Zusammenhang schon mehrmals diskutiert, wie der des Malers Horčicka und des Sprachwissenschaftlers, Publizisten und Dichters Josef Jungmann.“

„Meine Hypothese lautet, dass man dieses Werk nicht nur mit einem Autor verbinden kann. Ich glaube, dass seine Anfertigung eine sehr komplizierte und kollektive Angelegenheit war.“

Glauben sie, dass die Handschriften ihre Rolle erfüllt haben? Dass sie ihr Ziel erreicht haben?

„Man konnte damals natürlich nicht ahnen, was später im 19. Jahrhundert und heute passieren wird. Das haben sich Hanka und andere kaum vorstellen können. Ich muss sagen, dass ihre Tat ein Erfolg war. Die Rezeption hat wahrscheinlich selbst die Autoren überrascht. Aber die Handschriften existierten nicht in einem Vakuum. Wenn es nicht die Handschriften gegeben hätte, hätten die Autoren jener Zeit wahrscheinlich nach anderen Modellen gegriffen. Man kann nicht behaupten, dass die Handschriften die einzigmögliche Leistung waren, die die Tschechen damals gebraucht hätten. Aber natürlich wäre unsere Geschichte ohne die Handschriften ganz anders verlaufen.“


Musikalisch begleitet wird die Sendung durch Lieder von Jan Václav Tomášek, die 1823 komponiert wurden. Tomášek war einer von vielen Komponisten, die die Texte der Handschriften vertonten.