Das Schicksal der Marta Berthold
Dieser Tage wird in Prag ein Dokumentarfilm über den Pädagogen Premysl Pitter gedreht. Nach Kriegsende hatte Pitter in einer einmaligen Aktion hunderten von deutschen und jüdischen Kindern das Leben gerettet. Eines dieser Kinder kam nun zu den Dreharbeiten aus Deutschland nach Prag. Katrin Bock traf sie und im folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte hören Sie die Geschichte von Marta Berthold.
Von der vorläufigen tschechoslowakischen Regierung war der Pädagoge Premysl Pitter nach Kriegsende im Mai 1945 damit beauftragt worden, für jüdische Kinder, die aus Theresienstadt und anderen Konzentrationslagern zurückkamen, zu sorgen, bis Familienangehörige gefunden werden konnten. Für diesen Zweck erhielt Pitter vier Schlösser in der Nähe von Prag, die zuvor von den Nazis genutzt worden waren. Bald bemerkte Premysl Pitter die Not deutscher Kinder, die in Sammellagern unter unmenschlichen Bedingungen lebten. Er entschloss sich, zu handeln und auch diesen Kindern zu helfen. Und so lebten in den ersten Nachkriegsjahren deutsche und jüdische Kinder gemeinsam unter den Dächern der vier Schlösser und erholten sich langsam von den schrecklichen Kriegserlebnissen. Eines dieser Kinder war Marta Bertold.
"Ja das kam durch den Krieg. Wir sind aus Schlesien, das heute Polen ist. Wir sind ausgebombt worden. Meine Eltern mussten rausmachen und so sind wir mit Pferd und Wagen abgerückt. Und wir sind eben dann bis Prag gekommen. Und hier bin ich krank geworden, hatte ich eine Mittelohrvereiterung und da musste ich ins Krankenhaus und wurde operiert und meine Eltern, die durften ja nicht bleiben dort. Und über Nacht ist der Bombenangriff gewesen hier. Am nächsten Tag sollten mich meine Eltern abholen, aber da war ich dann eben nicht mehr da, weil das Krankenhaus geräumt wurde, und keiner wusste aber auch, wohin. Dadurch bin ich dann vermisst gewesen. Und ich weiß nur, ich bin dann in einer Schule gewesen, von der Schule bin ich dann dort weggekommen und so mir gesagt worden ist, bin ich dann mit anderen Kindern in die Schlösser gekommen, und von dort aus sind wir dann von Schloss zu Schloss gezogen, weil die immer wieder zugemacht wurden und aus dem letzten Schloss bin ich dann ins Krankenhaus gekommen. Da war ich ganz schwer krank, da hatte ich eine Lungenentzündung gehabt. Von dort bin ich dann ins Krankenhaus gekommen nach Krc. Dort war ich zwei Jahre lang. Die Olga und der Pitter haben mich dort viel besucht. Als ich dort dann genesen war, dass ich rauskonnte, da bin ich dann nach Prag gekommen, hier ins Milic-Haus."
Das Milic-Haus im Prager Stadtteil Zizkov hatte Premysl Pitter bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als Tagesstätte für Kinder aus armen Familien gegründet. Zu Beginn der deutschen Okkupation fanden jüdische Kinder im Milic-Haus bei Premysl Pitter einige Zeit Zuflucht. Heute befindet sich in dem Haus ein Kindergarten. Hier habe ich letzte Woche Marta Berthold getroffen, die im Milic-Haus einige Jahre ihrer Kindheit verbracht hat.
Wie war es für Sie, nach 50 Jahren wieder in dieses Haus zu kommen?
"Es ist schön, aber es hat sich viel verändert. Ich habe gedacht, es ist noch so, wie es früher war, aber es ist viel anders jetzt."
Sie haben hier auch gewohnt?
"Ja, ich habe hier gewohnt. Wo ich hier geschlafen habe, das weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, ich habe hier gewohnt. Ich wurde früh geweckt, ich hab hier mit gegessen."
Dass heißt, das war für einige Zeit auch Ihr zuhause?
"Ja, das war mein Zuhause. Sozusagen, Prag. "
Olga Fierz, die Mitarbeiterin von Premysl Pitter, hat damals in Aufzeichnungen die Schicksale einiger ihrer kleinen Zöglinge festgehalten. In dem vor einigen Jahren erschienen Buch "Kinderschicksale in den Wirren der Nachkriegszeit" ist auch die kleine Marta erwähnt:
"Das kleine und blasse Mädchen war etwa vierjährig, als es Premysl Pitter Ende Juli 1945 mit den ersten deutschen Kindern aus der Hölle der Rais-Schule in Prag Vinohrady rettete und ins Schlösschen Lojovice brachte. Es blieb schließlich von allen 800 heimatlosen Kindern, die in Pitters Heimen Schutz und Erholung fanden, am längsten in seiner Obhut. Marta wartete mit großer Sehnsucht, dass sie von ihrer Mutter abgeholt würde. Als das Kinderheim in Lojovice Ende 1946 geschlossen werden musste, kam Marta mit den verbleibenden Kindern nach Ladvi, und als dieses Heim aufgegeben werden musste, kamen die Insassen ins große Schloss Kamenice."
Wie alt waren Sie bei Kriegsende, da waren Sie noch sehr klein, oder?
" Ja, da war ich vier, fünf Jahre. Mit vier Jahren haben mich meine Eltern zurückgelassen und mit zwölf Jahren haben sie mich dann wiedergekriegt."
Haben Sie sich denn noch an Ihre Eltern erinnert?
"Nicht mehr. Das hat man alles verdrängt."
Und als Sie Ihre Eltern verloren hatten, haben sich Premysl Pitter und Olga Fierz sie gefunden, und sich um Sie gekümmert, weil sie wussten, dass Sie alleine sind?
"Ja, also die erste Zeit im Schloss war ich mit den anderen Kindern ja zusammen und es haben sich dann viele deutsche Familien gemeldet wieder, wo die Kinder dann wieder nach Hause gekommen sind. Tja aber leider, meine Eltern hatten sich nicht gemeldet. Und eines Tages hat es dann doch noch geklappt. Die Olga und der Pitter, die haben das nicht aufgegeben. Die hätten mich adoptiert, aber die wollten die Gewissheit haben, dass ich eben noch Eltern hab oder nicht habe. Denn es ist dann schwer, auseinander zu reißen."
Aber es war doch sicher auch so schwer, nachdem Sie all die Jahre hier verbracht haben mit Premysl Pitter und Olga Fierz?
"Ja, war auch."
Haben Sie sie später noch einmal wieder getroffen?
"Leider nicht."
Überhaupt nicht mehr?
"Obwohl, ich hätte es gerne gemacht."
Das lag wahrscheinlich daran, dass Premysl Pitter gehen musste, geflohen ist.
"Obwohl ich war, meine Gedanken war eben immer, ich war beruhigt. Ich war in Myto, mir hat es an nichts gefehlt, ich war also wirklich dort glücklich gewesen. Ich wusste ja, dass sie da waren, wenn's auch immer geschrieben haben. Ich sag, vielleicht später mal, wenn ich groß bin, vielleicht kann ich da ja mal hin. Aber, leider zu unserer Zeit - wir konnten ja nicht über die Grenze hinaus. Und da hatte ich immer meinen Trost mit den Bildern gehabt, die sie mir geschickt hat."
Und in der Zeit, als Sie hier in Prag und der Tschechoslowakei waren, haben Sie gedacht, dass Premysl Pitter und Olga Fierz Ihre Eltern sind? Quasi, dass Sie sie adoptiert haben?
"Das waren meine Eltern und das waren sie auch bis zum Tode."
Wie war das für Sie als deutsches Kind? Hat Premysl Pitter mit Ihnen deutsch geredet?
"Ne, tschechisch. Ich hab perfekt tschechisch gesprochen. Ich bin ja in die Schule gegangen, ich hatte auch mein Zeugnis gehabt. Ich hab sogar ein gutes Zeugnis gehabt. Was mich dann später in Deutschland nicht so lag. Ich musste ja erstmal die deutsche Sprache wieder lernen, wo ich überhaupt keinen Bock drauf hatte."
Ich wollte das fragen, wie Sie das gemacht haben. Sie sind ja als deutsches Kind nach Prag gekommen, wurden zu einem tschechischen und sind dann wieder deutsches Kind geworden.
"Ja, ja leider, ich wäre gerne hier geblieben."
Wie war es, als Ihre Eltern wieder gekommen sind?
"Das war komisch. Ich möchte das einer Mutter niemals zumuten, so was wie bei mir. Wo ich meine Mutter das erste Mal gesehen habe, das ist traurig, aber ich hab gesagt, ich hab so für mich gedacht: was will die fremde Frau von mir? Ich hab sie ja nicht gekannt. Ich hatte ja auch kein Bild, nichts von ihr gehabt. Und wo ich in Myto war, die wollten mir deutsch lehren, aber ich hab das nicht, die haben das aufgegeben, die haben gesehen, ich hab keinen Bock gehabt. Ich hab mich gesträubt, ich wollte nicht. Und als ich dann nach Prag kam, mit der Tante Maruska, ich musste ja unterschreiben, die Ausreise und alles - ich war traurig, weil man aus der Kindheit rausgerissen wird. Man hatte sich drei Jahre eingelebt dort."
Es war sicherlich auch schwierig in Deutschland wieder neu anzufangen.
"Freilich. Ich hab zwar Schwestern auch gehabt, ich hab noch drei Schwestern, die waren aber schon größer nicht, ich bin die jüngste von allen."
Wie ist es für Sie, wenn Sie daran erinnert werden an ihre Kindheitsjahre hier?
"Es ist traurig, aber sobald ich die Bilder nicht mehr sehe und alles weglege, hab ich innere Ruhe. Aber sobald ich das sehe, nicht, da ist Feierabend. Das erinnert einen sein ganzes Leben lang. Wer das nicht mitgemacht hat. Der kann das nicht nachfühlen."
Marta Berthold lebt heute im sächsischen Lichtenwalde, sie hat sieben Kinder und ist inzwischen 10fache Großmutter.
Die Hilfsaktion Schlösser von Premysl Pitter und seinen Helfern endete 1947. Über 800 deutschen und jüdischen Kindern wurde während dieser zwei Jahre geholfen. Premysl Pitter hatte nach der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei im Februar 1948 immer größere Probleme, 1950 floh er schließlich in den Westen. Seine Mitarbeiterin Olga Fierz war als Ausländerin bereits zuvor des Landes verwiesen worden. In den 50er Jahren betreuten die beiden Ostflüchtlinge in einem Flüchtlingslager bei Nürnberg. Anfang der 60er Jahre zogen sie in die Schweiz. Dort halfen sie nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1968 tschechoslowakischen Flüchtlingen. Premysl Pitter starb 1976 in der Schweiz, 1990 starb seine Mitarbeiterin Olga Fierz.