Der Prozess gegen Lubomir Strougal
In unserem Programm geht es wie gewohnt weiter mit einem neuen Kapitel aus der tschechischen Geschichte. Katrin Bock wirft diesmal einen Blick auf den kürzlichen Prozess gegen den ehemaligen kommunistischen Innenminister und Regierungschef Lubomir Strougal.
Mitte Dezember vergangenen Jahres begann in einem Prager Gericht der Prozess gegen Lubomir Strougal. In den 60er Jahren war Strougal Innenminister und von 1970 bis 1988 Regierungschef. Die Anklage lautete Amtsmissbrauch. Strougal soll 1965 in seiner Position als Innenminister die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen der Staatssicherheit blockiert haben, die 1948 drei ihrer Häftlinge gefoltert und ermordet haben. Mit Spannung wurde der Prozess gegen den bisher höchsten Vertreter des ehemaligen kommunistischen Regimes erwartet. Mitte letzter Woche wurde schliesslich das Urteil gesprochen. Doch rekonstruieren wir zunächst einmal den etwas komplizierten Fall.
Einige Monate nach der Machtergreifung der Kommunisten im Februar 1948 begann in der Tschechoslowakei die Verfolgung von angeblichen Staatsfeinden. Unter den damals Verhafteten waren auch Petr Konecny, Frantisek Novotny und Bedrich Wiesner. Die drei kannten sich nicht, ihre Fälle standen in keinem Zusammenhang.
Petr Konecny war Mitglied der Nationalen Sozialistischen Partei - der Partei, deren Mitglied auch der kurz zuvor zurückgetretenen Präsident Edvard Benes war. Die Staatssicherheit glaubte, dass Konecny über Informationen verfügte, die zur Lösung eines bisher ungeklärten politischen Mordes führen könnten. Konecny, wurde verhaftet, verhört, gefoltert. Die ihn verhörenden Staatssicherheit-Mitarbeiter befürchteten, dass ihre brutalen Verhörmethoden entdeckt werden und Informationen, die Konecnz während der Verhöre von ihnen erfahren hatte, an die Öffentlichkeit dringen könnten. So wurde beschlossen, Petr Konecny verschwinden zu lassen. Er wurde in die Slowakei verschleppt, erschossen und seine Leiche verscharrt. Erschossen hat Konecny der berühmt berüchtigte Mitarbeiter der Staatssicherheit Miroslav Pich Tuma.
Frantisek Novotny arbeitete im Innenministerium und war ebenfalls Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er wurde verdächtigt, mit westlichen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. Im August 1948 wurde Novotny verhaftet, verhört und gefoltert. Seine Folterer beschlossen ihn als Abschreckung für weitere vermeintliche Mitarbeiter westlicher Geheimdienste zu erschiessen. Ein Fluchtversuch wurde inszeniert, Novotny erschossen. Die Version des auf der Flucht Erschossenen wurde bei späteren Untersuchungen des Falls akzeptiert.
Bedrich Wiesner wurde im November 1948 verhaftet. Da er während des Zweiten Weltkriegs in Grossbritanien im Exil war, wurde ihm nun Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst vorgeworfen. Während des Verhörs wurde Wiesner wiederholt brutal geschlagen - einen Tag später starb er im Gefängnis an inneren Blutungen. Sein Folterer, Miroslav Pich-Tuma, der bereits Petr Konecny erschossen hatte, behauptete, Wiesner sei eine Treppe heruntergefallen - zunächst wurde ihm geglaubt. Die Morde an Petr Konecny, Frantisek Novotny und Bedrich Wiesner gingen in die Geschichte als der "Fall der drei Morde" ein. Die gezeigte Brutalität erschreckte selbst die höchsten Organe der Kommunistischen Partei. 1953 wurden Miroslav Pich-Tuma sowie sein Kollege Stepan Placek zu jeweils 15 Jahren verurteilt. Weitere, an den Morden beteiligte Staatssicherheit-Mitarbeiter sowie deren Vorgesetzte, die die Morde deckten bzw. befohlen hatten, gingen bis heute straffrei aus. Mitte der 50er Jahre befasste sich schliesslich das Zentralbüro der Kommunistischen Partei mit dem "Fall der drei Morde" und ordnete an, ihn in Zukunft nicht wieder aufzurollen. Kurz gesagt, die Geschehnisse sollten verschwiegen werden und in der Vergessenheit versinken, weitere Akteure und Verantwortliche sollten nicht mehr verfolgt werden.
Dies änderte sich Anfang der 60er Jahre, als erste Rehabilitierungen in politischen Prozessen Verurteilter erfolgten. Man begann gesetzeswidrige Vorgänge bei Verhören und Prozessen in den Jahren 1948 bis 1954 zu untersuchen. Und so erhielt der damalige Innenminister Lubomir Strougal im Frühjahr 1964 den Auftrag, den "Fall der drei Morde" erneut zu untersuchen und alles verfügbare Archivmaterial der Staatsanwaltschaft vorzulegen. Und hier beginnt der heutige Fall Strougal.
Im März 1965 legte die mit der Untersuchung beauftragte Inspektion des Innenministerium ihren Bericht Strougal vor - dieser weigerte sich, den Bericht an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Das ist der Punkt, über den nun Anklage und Verteidigung verschiedener Meinung sind.
Laut Anklage hat der damalige Innenminister Strougal durch seine Weigerung, den Bericht weiterzuleiten, die Verfolgung und Bestrafung von Mittätern und Mitwissern der drei Morde blockiert und damit verhindert. Die Anklage legte als Hauptbeweisstück ein bis heute in den Akten liegenden Stück Papier vor, auf dem steht, dass der Bericht liegen gelassen und nicht an die Staatsanwaltschaft weitergereicht werden solle. Damit sei eine weitere Aufklärung des Falls unmöglich geworden. Die Anklage forderte eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe für diesen Fall von Amtsmissbrauch.
Lubomir Strougal führte in seiner Verteidigung jedoch an, dass er den Bericht nicht weiterleiten wollte, weil dieser schlecht und unvollständig gewesen sei und nur die Namen kleiner Fische, nicht aber der verantwortlichen Vorgesetzten enthalten habe. Er habe sich, so Strougal weiter, mit dem Staatsanwalt abgesprochen, dass der Fall auch ohne diesen Bericht weiter untersucht werde. Die Frage, warum dies nicht geschah und warum bei der Staatsanwaltschaft keinerlei Akten über diesen Fall zu finden seien, konnte der ehemalige Innenminister nicht beantworten. Strougal beteuerte seine Unschuld und forderte einen Freispruch. Unter anderem erklärte Lubomir Strougal:
"Ich fühle keine moralischer Verantwortung in diesem Fall, denn ich habe mich im Rahmen der mir zustehenden Möglichkeiten und Befugnissen bemüht, jegliche Verantwortung dieser Leute, die in dem Fall verwickelt waren, aufzuklären."
Vergangene Woche wurde das Urteil in diesem Prozess verkündet. Die Hauptfrage lautete: war es wirklich Strougal, der eine weitere Untersuchung des Falls verhinderte, oder hatte die Parteiführung ihre Finger im Spiel? Richter Tomas Hajek entschied eindeutig:
"Der Angeklagte Lubomir Strougal, geboren am 19. Oktober 1924, wird von der Anklage freigesprochen."
In seiner Begründung führte Richter Tomas Hajek an, dass nicht eindeutig bewiesen werden konnte, dass es Strougal war, der die Aufklärung des "Falls der drei Morde" verhinderte. Die von der Anklage vorgelegten Beweise sind seiner Meinung nach nicht ausreichend für eine Verurteilung. Richter Hajek kritisierte in seiner Begründung zudem die von den Medien angeblich geschaffene antikommunistische Atmosphäre, die eine Verurteilung zu jedem Preis verlangt hätte. Sichtlich zufrieden und erleichtert verliess Lubomir Strougal den Gerichtssaal nach dem Freispruch.
Unzufrieden mit dem Urteil ist sowohl die Anklage sowie die Konföderation der politisch Verfolgten. Die Staatsanwältin Eva Zarecka legte sofort Berufung ein. Jan Srb, Sprecher der Behörde zur Aufklärung und Verfolgung kommunistischer Verbrechen, die die Anklage in vorbereitet hat, kritisierte das Urteil:
"Es stellt sich die Frage, ob die Entscheidung des Richters in diesem Fall nicht zum Präzedenzfall wird, und Gerichtsentscheidungen, die sich mit Verbrechen der kommunistischen Ära beschäftigen, seltener werden. Hoffen wir, dass die nächste Instanz der gleichen rechtlichen Meinung ist wie die Staatsanwältin. Meiner Meinung war es von Seiten des Richters unstatthaft und unangebracht, die politische Situation und den Druck der Medien zu erwähnen. So etwas gehört nicht in eine Urteilsverkündung."
Soweit Jan Srb, Sprecher der Behörde zur Aufklärung und Bestrafung kommunistischer Verbrechen.
Von verschiedenen Seiten wird in Tschechien kritisiert, dass bisher keine führenden Vertreter des Kommunisitschen Regimes vor Gericht zur Verantwortung gezogen wurden. Laut Richter Hajek schaffen Medien und einige Politiker eine Atmosphäre, die eine Abrechnung mit der Vergangenheit den Gerichten überantwortet. Lubomir Strougal war der bisher höchste Funktionär, gegen den Anklage erhoben wurde - und dies nicht zum ersten Mal. Bereits 1994 hatte die Behörde zur Aufklärung und Verfolgung kommunistischer Verbrechen Strougal und weitere hohe kommunistische Funktionäre wegen der angeblich widerrechtlichen Bewaffnung der Volksmilizen angeklagt. Der Prozess endete im Juli vergangenen Jahres vor dem Höchsten Gerichtshof, das eine Einstellung des Verfahrens bestätigte. Wegen Gefährdung der Öffentlichkeit sollte Strougal 1999 angeklagt werden. Die Aufklärungsbehörde hatte Material gesammelt, dem zufolge Strougal nach der Explosion des Atomkraftwerks in Tschernobyl die tschechoslowakische Bevölkerung falsch über die mögliche Bedrohung infomierte und sie so eines Risikos ausgesetzt habe. Im März 1999 wurde der Fall eingestellt. So wartet die tschechische Öffentlichkeit 12 Jahre nach der Samtenen Revolution noch immer auf die Verurteilung grosser Fische des ehemaligen Regimes - bisher wurden lediglich ein paar kleine Fische zu zumeist auf Bewährung ausgesetzten Strafen verurteilt. Im Fall Strougal wird es einen zweiten Akt geben - wann die Berufungsverhandlung stattfindet, steht noch nicht fest. Und damit sind wir am Ende unseres heutigen Geschichtskapitels.