Der „rote Kisch“ in der ČSSR – Prager Erinnerungen an den rasenden Reporter
Am 31. März 1948, also vor fast genau 60 Jahren, ist in Prag Egon Erwin Kisch gestorben - der rasende Reporter, der Meister und Mitbegründer des Genres der literarischen Reportage. Ein abenteuerliches Leben hatte ihn um den halben Globus geführt, zuletzt hatte er vor den Nationalsozialisten ins Exil nach Mexiko fliehen müssen. Ungebrochen aber blieb die enge Verbindung zu seiner Heimatstadt Prag, in die Kisch schließlich nach dem Krieg für seine letzten Lebensmonate zurückkehren konnte. Im Archiv des Tschechischen Rundfunks liegen zahlreiche Bänder mit Erinnerungen von Prager Weggefährten und Bekannten an Egon Erwin Kisch. Thomas Kirschner hat für den folgenden Kultursalon eine Auswahl getroffen.
„Auf seinem Grab ist eine Büste – etwas so Echtes habe ich noch nicht gesehen. Das ist ohne Frage das am besten gelungene Porträt von Kisch. Wenn Sie vor ihm stehen, dann spricht er mit Ihnen.“
So erinnert sich die Prager Übersetzerin Jarmila Haasová-Nečasová in den siebziger Jahren an den "rasenden Reporter". In Prag ist Egon Erwin Kisch begraben, in Prag wurde er am 29. April 1885 geboren. Prag, das goldene, das geheimnisvolle Prag ist für Kisch Stoff, Inspiration, Heimat. Mit seinen Prager Reportagen legt er den Grundstein zu seinem Weltruhm; im „Marktplatz der Sensationen“ hält er noch im Exil in Mexiko Rückschau auf die Jahre an der Moldau.
Und die Stadt gedenkt ihres Sohnes: Auch in der sozialistischen Tschechoslowakei wird die Erinnerung an Kisch hochgehalten - an den „rasenden Reporter“ mit seinen Berichten aus dem Leben des einfachen Volkes, vor allem aber an den „roten Kisch“, den Führer der Wiener Revolutionsgarden von 1918, den Berichterstatter aus dem frühen Sowjetrussland. Während die übrige Prager deutsche Literatur totgeschwiegen wird, darf man über Kisch sprechen - jedenfalls unter den passenden ideologischen Vorzeichen. Zahlreiche Bänder im Archiv des Tschechischen Rundfunks zeugen davon. Etwa die folgende Würdigung von Ladislav Štoll, dem Leiter des Institutes für tschechische Literatur und Weltliteratur und ehemaligen Bildungs- und Kulturminister, der sich bis zu seinem Tod 1981 als unermüdlicher Vorkämpfer für die reine stalinistische Lehre ausgezeichnet hat:
„Egon Erwin Kisch ist nicht nur eine der größten international bekannten Persönlichkeiten aus dem Kreis der Prager deutschen Literatur, sondern er war in diesem Kreis auch der, der dem tschechischen Volk am nächsten stand – der, der dank seines feurigen Gefühls für das demokratische Miteinander schon in der Jugend mit dem Leben der Prager Arbeiterschicht und den demokratisch denkenden Vertretern der tschechischen Literatur bekannt wurde, aber auch mit der Prager literarischen Boheme – so dass sich die Literarhistoriker nun die Frage stellen, ob er ein deutscher oder ein tschechischer, deutsch schreibender Schriftsteller war.“
Eine Frage, die auffällig schlecht zum proklamierten sozialistischen Internationalismus passt. Gerade auf Kischs kommunistischen Überzeugungen liegt aber natürlich der Schwerpunkt der Ausführungen des linientreuen Kulturfunktionärs Ladislav Štoll:
„Kisch hat klar erkannt, dass hinter den nationalen Konflikten letzten Endes der Klassenkampf stand. Er hat die Gegensätze nicht zwischen den Nationen gesehen, sondern zwischen denen, die unterdrückt sind und denen, die unterdrücken. Unterdrücker und Ausbeuter hat er scharf angegriffen und mit der gleichen Leidenschaft für eine Welt ohne Ghettos und Klassen gekämpft. Und dieses Ziel konnte seiner Auffassung nach einzig und allein im Sozialismus erreicht werden.“
Entscheidend beeinflusst hat Egon Erwin Kisch das Leben von Jarmila Haasová-Nečasová. Kisch, dem Bekannten der Mutter, verdankt die Übersetzerin ihre Berufswahl. Denn zum 10. Jahrestag des Kriegsbeginns sollte 1924 eine von Kischs berühmtesten Reportagen aus dem Ersten Weltkrieg auch auf Tschechisch erscheinen - der "Übergang über die Drina":
„Da ist der Kisch gekommen: ´Ich möchte, dass du mir hier die ´Drina´ zum Jahrestag übersetzt.´ - ´Such dir dafür mal einen Soldaten, sowas kann ich nicht´, habe ich gesagt. Aber Kisch hat nicht locker gelassen, bis ich ja gesagt habe. Und das war meine allererste Übersetzung, der ´Übergang über die Drina´. Und von da an war ich an das Übersetzen verloren.“
„Ich muss sagen: Einen so fleißigen Schriftsteller, wie Kisch es war, habe ich nie wieder getroffen. Täglich war er von neun Uhr an in der Bibliothek, da hat er bis zum Mittagessen seine Exzerpte gemacht. Und weil er eben der Kisch war, der sich immer alles einzurichten verstand, hat er es sogar soweit gebracht, dass sie ihm die Bücher nach Hause geliehen haben. Er hat tatsächlich sofort alles erledigt und Gisela, seine spätere Frau und damalige Sekretärin hat alles abgeschrieben. Na, und am Abend ist er dann ins Romanische Café gegangen – das ging manchmal bis drei Uhr in der Nacht. Aber morgens um neun war er wieder in der Bibliothek.“Das Romanische Café ist Fixpunkt in den Berliner Jahren von Kisch. Nach dem Reichstagsbrand kommt Kisch in Gestapo-Haft, wird aber nach zahlreichen Fürsprachen bald nach Prag abgeschoben. Hier setzt er sich für die Flüchtlinge aus Deutschland ein, erinnert sich Ota Kominík, einer der damaligen Helfer:
„Persönlich habe ich Egon Erwin Kisch bei einer Hilfsaktion kennen gelernt, die 1933 nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland ins Leben gerufen worden war, und zwar wegen der verzweifelten Flucht Zehntausender, die ohne Gepäck und alles sich aus dem Reich in Richtung Tschechoslowakei aufgemacht hatten. Hier in Prag haben eine Reihe von Leuten versucht, in dem so genannten Šalda-Komitee zu helfen. Einmal im Monat haben wir uns im Café Louvre getroffen. Nie ist die Zahl der Leute, um die wir uns gekümmert haben, unter 800 gefallen. Der berühmte Schriftsteller und Namenspatron F.X. Šalda hat wegen seines Alters nicht mehr aktiv teilnehmen können, führende Persönlichkeit war, jedenfalls wenn er nicht gerade auf Reisen war, Egon Erwin Kisch.“
Noch aus den Prager Vorkriegsjahren erinnert sich auch der Film- und Theaterschauspieler Vladimir Šmeral an Egon Erwin Kisch, an seine ausschweifenden Erzählungen und seine unbändige Lust auf Neues:
„Kisch habe ich nach dem 33er-Jahr kennen gelernt. Kisch ist damals in die Theater gegangen, in denen ich gespielt habe, und manchmal hat er auf mich gewartet. Er war ein neugieriger Reporter, ich war auch neugierig, so gab es immer interessante Gespräche. Kisch hatte so einen eigentümlichen, ansprechenden Humor und hat zum Beispiel mit großen Gesten von seinem Besuch bei Charlie Chaplin erzählt – etwa wie er sich auf Chaplins Wunsch als Filmproduzent ausgeben musste, damit Chaplin von den zudringlichen Mädchen Ruhe hatte, die unbedingt zum Film wollten. Ich kann das nach so vielen Jahren nicht mit der gleichen Laune wiedergeben, aber damals habe ich mich vor Lachen ausgeschüttet. Das war Kisch – ein enormes Wissen und ein ganz eigener Humor. Heute sagt man: ´der rasende Reporter´. Ich würde eher sagen: ´der lachende Reporter´. Das Rasende, Furienhafte, das war seine wunderbare, unendliche Neugier aufs Leben - darauf, die Menschen, das Leben, und einfach alles kennen zu lernen.“
Die Lust auf Neues, auf Abenteuer wird für Kisch in den kommenden Jahren mehr als gestillt: Vor den Nationalsozialisten muss er aus Prag fliehen, es verschlägt ihn schließlich nach Mexiko. Im März 1946 kehrt Egon Erwin Kisch nach Prag zurück, angetan vom bereits beginnenden sozialistischen Umbau der Tschechoslowakei. Der Epilog eines Lebens, der sich nahtlos in sozialistische Deutungen fügt. Es erinnert sich Ľudovit Šulc aus der Presseabteilung des tschechoslowakischen Parlamentes, der Ende der vierziger Jahre als junger Journalist mit Kisch zusammengetroffen war:
„Kisch hatte damals angefangen, ein Buch über Marx in Karlsbad zu schreiben, mit sensationellen Fakten, die vorher niemand gekannt hat. Aber das Buch konnte er nicht mehr zu Ende bringen. Ich glaube nicht an Symbolik. Aber Tatsache ist, dass Kisch seine letzte Arbeit Marx gewidmet hat – dem Mann, dem er es zu verdanken hat, dass er von einem bürgerlichen Journalisten zu einem großen Autor bis heute aktueller und anziehender Werke geworden ist. Und das ist dann doch ein wenig symbolisch.“
Einen Monat nach der kommunistischen Machtübernahme ist Egon Erwin Kisch am 31. März 1948 in Prag gestorben. Es ist ihm erspart geblieben, zu dem stalinistischen Terror, der sich in den folgenden Jahren in der Tschechoslowakei entfaltet hat, Stellung beziehen zu müssen. Für seine regimetreuen Interpreten blieb Kisch der literarische Fahnenträger der Revolution. Auch für sie aber gilt Kischs literarisches Bekenntnis, zitiert nochmals von Ľudovit Šulc:
„Die Lüge, die Übertreibung, die Halbwahrheit, die schreibt sich leicht. Die Lüge ist das elastischste Material – man kann aus ihr machen, was man will. Die Wahrheit dagegen ist sehr heikel und brüchig.“