Die Bohemian National Hall: Herzstück von Klein-Tschechien in Manhattan
Manhattan, Upper East Side, heute eine der schicksten Wohngegenden von New York. Ihre Geschichte ist auch Teil der Geschichte der tschechischen Einwanderer, die sich vor allem im 19. Jahrhundert hier niedergelassen hatten. Nicht, dass diese Geschichte heute in der Upper East Side allgegenwärtig wäre, aber bei genauerem Hinsehen kann man da und dort noch ihre Spuren entdecken.
„Wir befinden uns hier im Herzen eines Viertels, das vor hundert Jahren ein kleines Tschechien war“, erklärt Sauer.„Dort drüben sehen wir die Spitze der Jan-Hus-Kirche, die zu diesem Viertel gehörte. Vor hundert Jahren lebten hier 40.000 Tschechen. Die Bohemian Benevolent and Literary Association sammelte von den Mitgliedern Geld, um dieses wunderbare Gebäude zu finanzieren, in dem sich die Tschechen dann treffen konnten.“
Ganz in der Nähe steht ein altes Haus mit der Aufschrift Sokol. Gibt es hier wirklich noch einen Sokol-Verband, oder ist davon nur noch diese alte Aufschrift geblieben? Marcel Sauer:„Nein, Sokol lebt immer noch! Wenn Sie hier sind, können Sie zum Sokol turnen gehen. Hier in der Gegend gab es früher auch viele tschechische Restaurants. Die gibt es heute nicht mehr, aber es leben Leute hier, die sich daran erinnern. Zu unseren Veranstaltungen kommen Gäste, die uns erzählen, dass sie zum letzten Mal im Jahr 1946 in diesem Gebäude waren.“
Der traditionsreiche Turnerbund Sokol mit Niederlassungen in vielen Ländern der Welt ist vielleicht der bekannteste tschechische Verein überhaupt. Die von Sauer bereits erwähnte, 1892 gegründete Bohemian Benevolent and Literary Association, kurz BBLA, diente jedoch gleich für mehrere Dutzend Vereine als Dachorganisation. Die gemeinsame Anstrengung, mit Spendengeldern ein tschechisches Haus in Manhattan zu errichten, war zunächst erfolgreich. 1896 öffnete die Bohemian National Hall ihre Pforten.„Es war ein universales Gebäude. Da vierzig tschechische Organisationen das Geld zusammengebracht hatten, gab es für diese Organisationen hier auch sehr viele Räume. Es gab sogar eine Schießbude, wo sich die Legionäre das Schießen beigebracht haben.“
Im Laufe des 20. Jahrhunderts aber gab es immer öfter Streit zwischen den verschiedenen Vereinen, erzählt Marcel Sauer. Viele Tschechen verließen außerdem die Upper East Side und zogen in die Vororte, die Bohemian National Hall wurde immer weniger genutzt.„Das Gebäude wurde in den achtziger Jahren zur Ruine. Schließlich kam man auf die Idee, es für einen Dollar dem tschechischen Staat zu überlassen. Unter der Bedingung, dass die BBLA, die das Gebäude im 19. Jahrhundert errichtet hatte, für die nächsten 400 Jahre den dritten Stock nutzen kann.“
Bedingung Nummer zwei: Der tschechische Staat verpflichtete sich, umfangreiche Renovierungsarbeiten durchführen zu lassen und dem Haus damit wieder zu seinem alten Glanz zu verhelfen. Das war 2001. Zwei Jahre später wurde mit der Renovierung begonnen, und im Oktober 2008, anlässlich des 90. Jahrestages der Gründung der Tschechoslowakei, konnte die Bohemian National Hall feierlich wiedereröffnet werden.Heute beherbergt das Gebäude neben der BBLA noch das tschechische Generalkonsulat und das Tschechische Zentrum, dessen Aufgabe es ist, tschechische Kultur im Ausland zu repräsentieren. Eine Bibliothek gibt es hier, in der Galerie nebenan werden Ausstellungen tschechischer Künstler gezeigt, regelmäßig werden Konzerte oder Lesungen veranstaltet. Im Erdgeschoss gibt es sogar ein Kino.
„Da tschechische Filme einen sehr guten Namen in der Welt haben, arbeiten wir viel mit Filmpräsentationen. Wir veranstalten zum Beispiel zweiwöchige Festivals, bei denen drei Filme pro Tag gezeigt werden. Oder wir haben eine Serie von Stummfilmen aus den zwanziger Jahren. Von Mai bis September haben wir außerdem ein Freiluftkino oben auf der Terrasse, wo jeden Donnerstag ein tschechischer Film läuft. Wer nach New York kommt, ist dazu herzlich eingeladen!“Marcel Sauers Deutschkenntnisse stammen unter anderem noch aus der Zeit, als er Direktor des Tschechischen Zentrums in Wien war. Geht er hier in New York anders an die Planung heran als dort?
„Ein bisschen schon. Man versucht sich auf die Energie und die Gewohnheiten des Landes einzustimmen. Man denkt anders, wenn man die Veranstaltungen plant.“
Im Korridor vor dem Büro hängt eine alte Metalltafel mit dem Konterfei des Komponisten Antonín Dvořák. Von 1892 bis 1895 hätte er in „diesem Haus“ gelebt, erzählt die Inschrift. Zu der Zeit also, als er seine berühmte Sinfonie aus der Neuen Welt schrieb. Marcel Sauer erklärt:„Diese Tafel war auf dem Haus angebracht, in dem Dvořák während seines Aufenthalts in New York wohnte. Das gibt es heute nicht mehr, und deshalb ist die Tafel hier bei uns. Aber Dvořák gab in diesem Haus ein Konzert.“
Sauer öffnet die Tür zu einem geräumigen Saal mit Galerie:
„Das ist der ehemalige Tanzsaal, wir nennen ihn heute den Großen Saal. Er dient für verschiedene Veranstaltungen, Konzerte, Vorlesungen, Theateraufführungen oder Empfänge.“Der Saal zeigt, ebenso wie die Vorderfront des Gebäudes, noch die ursprüngliche Architektur des 19. Jahrhunderts. Über der Bühne steht in großen Lettern Národ sobě – zu Deutsch etwa: die Nation für sich selbst. Weil die Landsleute sich das Haus selber bezahlt haben, sagt Sauer.
Národ sobě. Dieselbe Inschrift kann man auch über der Bühne des Prager Nationaltheaters lesen. Auch dafür hatten die Tschechen noch zur Zeit der Habsburgermonarchie selbst Geld gesammelt – gespendet hatten auch die Landsleute in Amerika.Fotos: Linda Pölz, Gerald Schubert