Die Erfindung des Massenwohnens: Siedlungsbau in der Tschechoslowakei
Wohnen ist ein großes Thema in der tschechischen Gesellschaft: vor allem, weil es teuer ist. Die Preise für eine Eigentumswohnung in Prag bewegen sich auf europäischem Durchschnittsniveau – egal ob es sich um einen Altbau im Zentrum von Prag handelt, um einen Neubau oder um eine Wohnung in einer Plattenbausiedlung. Für viele sind die Preise in der Hauptstadt Tschechiens bereits unerschwinglich hoch und so bleibt vor allem jungen Familien nichts anderes übrig, als auf eine günstige Gelegenheit zum Erwerb einer eigenen Wohnung zu warten. Die Geschichte wiederholt sich. Denn bereits Anfang der sechziger bis Ende der achtziger Jahren gehörte das Warten auf die "eigenen vier Wände" zum Alltag junger Familien in der damaligen Tschechoslowakei - und das trotz der Erfindung des Massenwohnens.
"Die fünfziger und sechziger Jahre waren eher die Zeit des Experimentierens, was überhaupt im Bereich des Massenwohnungsbaus möglich ist. Es wurden neue Technologien entwickelt, die Bauplattenteile wurden in dieser Zeit entwickelt und im Rückblick hat man an die Zeit des Wohnungsbaus in der Zwischenkriegszeit angeknüpft."
Mit dem Auftrag, eine Lösung des sich zuspitzenden Wohnungsproblems zu finden, wurden mehrere Institutionen beauftragt, unter anderem das 1959 gegründete Institut für Wohn- und Bekleidungskultur. Der Erfindung des Massenwohnens gingen zahlreiche Studien zur Entwicklung eines idealen Wohnraums voraus. Die Experten wurden aus den Bereichen Architektur und Wohndesign herangezogen, wie Lada Hubatová-Vacková von der Hochschule für Kunstgewerbe in Prag, erklärt:"Da waren markante Persönlichkeiten, die im Funktionalismus aufgewachsen und in den sechziger und siebziger Jahren immer noch aktiv waren. Deren linksgerichtete Avantgarde verband sich mit der kommunistischen Ideologie und wurde so zur offiziellen Ideologie der Wohnkultur der sechziger und siebziger Jahre, obwohl die ursprüngliche Vorstellung mit dem Funktionalismus verknüpft war. Und dazu gehörten vor allem Karel Honzík und Jan Emil Koula."
Was noch Anfang der sechziger Jahre als Experiment erprobt wurde, wurde nach dem niedergeschlagenen Prager Frühling 1968 in die Praxis umgesetzt. Nach der Einsetzung von Gustav Husak zum neuen Generalsekretär der Tschechoslowakei im Jahr 1969, wurde der Wohnungsbau massiv fortgesetzt und gleichzeitig die Propaganda zur Ankurbelung des Geburtenwachstums verstärkt, wie Cyril Říha bestätigt:
"Es kam eine große Anzahl neuer Kinder auf die Welt und es war nötig, sie unterzubringen. Möglicherweise war es auch umgekehrt: Erst gab es eine große Anzahl von Wohnungen und gerade darum kamen die Kinder auf die Welt."
Der Babyboom der siebziger Jahre ließen die Ausmaße des Massenwohnens in ungeahnte Dimensionen ansteigen. Dazu Cyril Říha:
"Es wurden die meisten Wohnungen überhaupt in der Nachkriegsgeschichte gebaut, bis zu 800.000. Das stellt bis heute 20 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes da, und das ist eine gewaltige Masse."
Vierzig Prozent der Bevölkerung wohnten in der Regel in gleich geformten drei plus eins Wohnungen, was nichts anderes bedeutete als drei knapp bemessene Räume: Kinderzimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer sowie Durchgangsküche und Badezelle. Hinzu kam die so gut wie überall identische Ausstattung der Inneneinrichtung. Wenig Farbe und die klassische Schrankwand für das Fernsehen.
Das politische Konzept der "Normalisierung" ging im Verlauf der 70iger und 80iger Jahre mit einem Wohn- und Lebensstil einher, den eine ganze Generation, die so genannten "Husak-Kinder", prägte. Die mangelnde Ästhetik grauer Betonwände, monotone Gleichheit und fehlende Menschlichkeit kritisiert der zeitgenössische Schriftsteller Václav Vogl in seinem Roman "Müllhaufen der Erinnerungen":"Ich schleiche mich durch das Labyrinth der Kästen zu meinem Fach eins und anderthalb in einem der Kästen. Wie viele sind wir hier eigentlich? Als sie mein Heimatdörfchen abgebaggert haben, sind alle in einen solchen Kasten umgezogen. Also ist ein Dorf ein solcher Kasten voller Schubladenfächer mit Menschen. Kein Ofen, kein massiver Tisch. Die Mitte eines jeden Schubladenfaches ist eine Plastikbadezelle, Heizkörper und Anbaumöbel. Der einzige Vorteil ist, dass egal wohin ich zu Besuch komme, ich mich immer gleich wie zu Hause fühle. Wenn man dazu überhaupt zu Hause sagen kann."
Trotz der mangelnden Wohnqualität war das Wohnen in der Siedlung für viele Menschen die einzige Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen und der noch engeren Gemeinschaftswohnung zu entkommen. Die Vorteile des so genannten "modernen Wohnens" mit fließendem Wasser und eingebauter Heizung, überschatteten die negativen Begleiterscheinungen, die den Neubau der Siedlungen auf der "grünen Wiese" mit sich brachten, wie Lada Hubatová-Vacková erklärt:"Man ist eigentlich in den Matsch gezogen, Grünes existierte noch nicht, und erst heute beginnt dort etwas nachzuwachsen. Erst jetzt, in der heutigen Zeit, sind die Siedlungen von Grün umgeben. Also ein Ideal von einer Stadt im Grünen waren die Siedlungen nicht."
Doch dies nahmen diejenigen, die viele Jahre auf ihre eigenen vier Wände gewartet hatten, gerne in Kauf. Dass die Massenwohnungen dem Zerfall bis heute entgangen sind, ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass es auch heute wieder junge Familien gibt, die viele Jahre auf ihre Wohnung warten und froh sind, ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben und sei es auch noch in einem so unförmigen Kasten.
Dieser Beitrag wurde am 29. September 2007 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.