Die ewigen Raunzer aus Tschechien? Eurobarometer bringt überraschende Details

Foto: Europäische Kommission

Jedes halbe Jahr, einmal im Frühjahr und einmal im Herbst, schwärmen Europas Meinungsforscher aus und messen die Stimmung der Bürger in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sorgen, Ängste, Hoffnungen und vor allem die Meinung zur EU selbst werden abgefragt und verglichen, präsentiert und kommentiert. Vergangene Woche wurden die Ergebnisse des neuesten "Eurobarometer" veröffentlicht. Stehen die Tschechinnen und Tschechen zu Recht im Ruf, besonders europaskeptisch zu sein? Ein Blick in die Studie gibt Anlass zum Zweifel.

EU-Kommissar Vladimir Spidla | Foto: Freddy Valverde,  Radio Prague International
"Wir haben uns den Weg in die Zukunft geöffnet und müssen uns vor ihr nicht fürchten!" Das rief der ehemalige tschechische Premierminister und heutige EU-Kommissar Vladimir Spidla im Juni 2003 auf dem Prager Burgplatz einer jubelnden Menge zu. Gerade war das Referendum über den EU-Beitritt Tschechiens zu Ende gegangen, 77 Prozent hatten sich für eine Zukunft in der Europäischen Union entschieden.

Vier Jahre später in der Prager Vertretung der Europäischen Kommission: Meinungsforscher präsentieren die Ergebnisse des jüngsten Eurobarometer. Wie sieht sie denn nun aus, die damalige Zukunft in der EU? Das wichtigste vorweg: Die Europäische Union genießt bei den Tschechinnen und Tschechen ein gutes Image. Drei Viertel verbinden mit ihr überwiegend positive Attribute wie "modern" oder "demokratisch". Und immerhin 61 Prozent sind der Ansicht, dass die EU ihrem Land Vorteile bringt, sagt die Studie. An dieser Stelle aber springt das Auge des Lesers wieder ein paar Zeilen nach oben. Wie war das doch gerade? Nur 46 Prozent halten die Mitgliedschaft in der EU für eine gute Sache. Irgendetwas passt da nicht ganz zusammen. Jan Herzmann, Direktor des Meinungsforschungsinstitutes Factum Invenio hat eine Erklärung:

"Dieses Paradox rührt vermutlich daher, dass die Menschen mit der Europäischen Union immer weniger symbolische Ziele verbinden, die in der Mitgliedschaft selbst liegen, und immer mehr die praktischen Aspekte der Mitgliedschaft sehen. Hier stößt man natürlich auch auf Probleme, wie zum Beispiel auf bestimmte administrative Hürden. Das praktische Leben bringt eben auch Schwierigkeiten mit sich, und nicht nur schöne Dinge."

Mit anderen Worten: Dabei Sein ist nicht mehr alles, jetzt kehrt ein gewisser Pragmatismus ein. Die Vorteile der EU-Mitgliedschaft werden durchaus geschätzt, aber enttäuschte Erwartungen trüben das Gesamtbild. Sind die Tschechen also doch jene Euro-Querulanten, für die sie oft gehalten werden? Oder tragen sie das Image der ewigen Raunzer zu Unrecht? Der Soziologe Ivan Gabal hat die Ergebnisse der Studie analysiert:

"Nein, nein, wir raunzen! Das auf jeden Fall! Wir sind in einigen Fragen kritischer und unzufriedener als andere Europäer. Aber das heißt nicht, dass wir Europa nicht wollen. Im Gegenteil: Wir wollen es - aber wir wollen es effektiver, moderner und dynamischer."

Foto: Europäische Kommission
Hier könnte er vielleicht liegen, der Schlüssel zu den rätselhaften Euro-Launen der Tschechen, die der ehemalige Erweiterungskommissar Günter Verheugen einmal als "Weltmeister in der Skepsis" bezeichnet hat. Wer der EU freundlich gesonnen ist, der möchte eben auch, dass sie funktioniert - und nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn einmal etwas nicht so gut oder nicht so schnell klappt, wie ursprünglich erwartet. Bei der Frage "Was bedeutet die Europäische Union für ihre Bürger?" liegen etwa Reisefreiheit sowie die Möglichkeit, überall in der EU arbeiten zu können, mit 63 Prozent unangefochten an der Spitze. Noch aber sind die Passkontrollen an den Grenzen nicht gefallen, und auch die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt ist noch nicht in allen Ländern gewährleistet - für viele ein Wermutstropfen, aber kein Grund, das Projekt EU an sich in Frage zu stellen. Ebenso sehen sich heimische Politiker der Kritik ausgesetzt, wenn europäische Standards zu langsam umgesetzt oder Anträge auf EU-Fördermittel verschlafen werden. Das zeigt sich unter anderem darin, dass das Vertrauen in die europäischen Institutionen hierzulande meist höher ist als das in die tschechischen.


Foto: Europäische Kommission
Pragmatische Kosten-Nutzen-Rechnungen sind jedoch nicht das Einzige, was die Tschechen an Europa interessiert. Fragt man sie, was die Europäer miteinander verbindet, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Da werden zunächst einmal die gemeinsame Kultur genannt, die gemeinsame Geschichte und gemeinsame europäische Werte. Erst dann, an vierter Stelle, kommt die Wirtschaft. Meinungsforscher Jan Herzmann:

"Ich glaube, in diesen Zahlen spiegelt sich jenes Gefühl des Europäertums wider, mit dem wir 2004 der EU beigetreten sind, und das auch das Hauptmotiv für den Ausgang des Beitrittsreferendums war. Und dieses endete bekanntlich mit einem eindeutigen Ja."

Das Selbstbild der Tschechen als Europäer habe sich in den letzten Jahren aber dennoch deutlich gewandelt, meint der Soziologe Ivan Gabal.

Foto: Europäische Kommission
"Bis zum Beitritt haben wir gezittert und nicht gewusst, ob wir genug Kondition haben, um in der Europäischen Union zu bestehen. Danach hat sich gezeigt, dass wir diese Kondition sehr wohl haben, und dass uns die Mitgliedschaft Vorteile bringt - und zwar ziemlich schnell, und nicht erst in 20 Jahren. Und dann kam das Nein zur EU-Verfassung bei den Referenden in Frankreich und den Niederladen. Da wurden wir uns auf einmal bewusst, dass wir uns auch mit der Entwicklung des gemeinsamen Ganzen beschäftigen müssen. Dass es nicht nur um unser eigenes Überleben in der EU geht, sondern dass wir auch Verantwortung für die Gemeinschaft tragen und uns zu Fragen äußern müssen, die uns früher nicht beschäftigt haben. Nehmen Sie zum Beispiel die Maritime Politik. Wir haben kein Meer, und plötzlich stimmen tschechische Abgeordnete auch in diesem Bereich über wichtige Fragen ab."

Einen großen Unterschied sieht Gabal zwischen dem Europa-Bild der Bürgerinnen und Bürger und dem vieler Politiker. Vor allem die größte Regierungspartei, die bürgerdemokratische ODS, gilt ja als eher euroskeptisch - ganz zu schweigen von Staatspräsident Vaclav Klaus, einem der prominentesten EU-Kritiker überhaupt.

Ivan Gabal
"Die Öffentlichkeit will, dass sich die Europäische Union weiter vertieft, dass sie das, was sie leisten soll, künftig noch viel besser leistet, um demokratischer und effektiver zu werden", so Gabal. "Sie will, dass sich die Integration qualitativ verbessert, und nicht dass sie sich verlangsamt oder gar abnimmt. Darin liegt glaube ich ein ganz substantieller Unterschied."

Die Tschechen sind eben immer für Überraschungen gut und zeigen den Volksvertretern gern mal, wo's lang gehen soll. Präsident Vaclav Klaus etwa genießt das Vertrauen von etwa drei Vierteln der Tschechen und ist damit der mit Abstand beliebteste Politiker im Land. Auf dem Weg, den der Präsident in der Klimadebatte eingeschlagen hat, wollen ihm seine Landsleute aber nicht folgen. Während Klaus von Panikmache durch Umweltschützer spricht, die ähnlich wie die Kommunisten die ganze Welt verplanen und die Freiheit unterdrücken wollen, unterstützen 93 Prozent der Tschechinnen und Tschechen die Klimaschutzmaßnahmen der EU. Das sind um vier Prozent mehr als der Durchschnitt in der Europäischen Union.