Die Flut - Ein Jahr danach

Prag, August 2002

Als vor einem Jahr die Flut über weite Teile Mitteleuropas hereinbrach, da waren wohl all jene, die selbst von den Überschwemmungen betroffen waren, vorerst einmal mit ihrem eigenen unmittelbaren Umfeld beschäftigt. Als dann das allgemeine Ausmaß der Katastrophe sichtbar wurde, blickten viele Menschen bestürzt auf die tschechische Metropole Prag. Denn auch viele Nicht-Tschechen kennen und lieben diese Stadt, nicht zuletzt wegen ihrer einzigartigen Baudenkmäler. Wir blicken nun noch einmal zurück auf die Katastrophe und auch auf die Spuren, die sie hierzulande hinterlassen hat. "Die Flut - Ein Jahr danach." So der Titel des nun folgenden "Schauplatzes", den Gerald Schubert gestaltet hat:

Prag,  August 2002
Wer Prag kennt und vor einem Jahr die Bilder der dortigen Überschwemmungskatastrophe im Fernsehen gesehen hat, dem ist es wohl kalt über den Rücken gelaufen: Die weltberühmte Karlsbrücke gesperrt, die Fluten darunter bedrohlich hoch, und der malerische Stadtteil Kleinseite am linken Moldauufer komplett unter Wasser. Nun, ein Jahr danach, hat sich längst herausgestellt, dass gerade die dort gelegenen Gebäude eigentlich am wenigsten Schaden davongetragen haben. Der Architekt und Denkmalschutzexperte Zdenek Lukes erklärt warum:

"Gerade die ältesten Bauwerke haben eine gewisse Widerstandsfähigkeit entwickelt, weil die Keller der Häuser und Paläste auf der Kleinseite und in der Altstadt im Mittelalter praktisch regelmäßig überflutet wurden. Diese können also paradoxerweise besser überleben, als manche der neueren Bauwerke."

Gesperrte Karlsbrücke,  August 2002
In einem anderen, hauptsächlich aus neueren Gebäuden bestehenden Stadtteil, dem Wohnviertel Karlin nämlich, sieht die Sache ganz anders aus: Dort, abseits des breiten Interesses, sind noch immer Tausende Wohnungen unbenutzbar. Und Hunderte Geschäfte und Firmen sind noch immer außer Betrieb, oder haben einen neuen Besitzer und eine völlig neue Gestalt.

Insgesamt lässt sich für Prag und überhaupt für Tschechien sagen: Nach außen hin sind die Katastrophenfolgen weitgehend beseitigt, die meisten Bereiche der Infrastruktur sind wiederhergestellt. Dies soll jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das Leben vieler Menschen durch die Flut eine entscheidende Wendung genommen hat.

Vor kurzem hat der Prager Oberbürgermeister Pavel Bem im Altstädter Rathaus jene Einsatzkräfte von Polizei, Rettung und Feuerwehr geehrt, die damals wenigstens die schlimmsten, unmittelbaren Katastrophenfolgen zu verhindern halfen. Auch er blickte in seiner Ansprache mit einem unüberhörbaren Schauder auf die Katastrophe zurück, und sprach auch den Schatten an, den diese - wenn auch auf den ersten Blick nicht erkennbar - nach wie vor auf die tschechische Hauptstadt wirft:

Karlin,  August 2003
"Von heute an sind es nur noch einige wenige Tage bis zu jenem Moment, an dem sich vor einem Jahr der Himmel über uns verfinsterte und unendliche Regengüsse ankündigten, dass uns hier etwas bevorsteht. Etwas, das das Leben der Prager für Tage, Wochen, Monate, und - wie ich aus heutiger Sicht sagen kann - für Jahre beeinflussen wird."

Im Anschluss an die Ordensverleihung hat Radio Prag einen der Ausgezeichneten, den Vizechef der Prager Polizei, Vaclav Blaha, nach seinen Erinnerungen an die Katastrophe gefragt:

"Die Erinnerungen sind sehr unterschiedlich. Das beginnt bei vielen angenehmen Erlebnissen, die ich damals hatte und die etwa die Qualität und Professionalität der Einsatzkräfte betrafen, und geht bis zur Erinnerung an die Verzweiflung in den Augen der Menschen, die wir gezwungen haben, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Man kann also sagen: Ich habe an das Hochwasser, wenn ich es aus der Sicht der erzielten Erfolge beurteile, eine positive Erinnerung. Aber ich gebe zu: Ich wäre froh, wenn sich so etwas in Prag nie mehr wiederholen würde. Wenn die Menschen ruhig schlafen könnten, ohne mit einer solchen Naturkatastrophe konfrontiert zu sein."


Um das Ausmaß der Flutkatastrophe auch nur halbwegs begreifbar zu machen, wollen wir - quasi als Ergänzung zu den Bildern, die man ohnehin nicht so schnell vergisst - an einige Zahlen erinnern. Die nüchterne Bilanz der wichtigsten Eckdaten sieht etwa so aus: 17 Todesopfer. 225.000 evakuierte Menschen. 800 betroffene Gemeinden, darunter die Hauptstadt Prag. Ausrufung des Notstandes in sechs der vierzehn tschechischen Landkreise. Finanzieller Schaden: Etwa 73 Milliarden Kronen, das sind fast 2,4 Milliarden Euro.

Für die Betroffenen wurde sowohl von tschechischen Behörden und Hilfseinrichtungen als auch von ausländischen Organisationen Hilfe geleistet - sehr oft schnell, wirksam und unbürokratisch. Überhaupt ist die Solidarität zwischen den Menschen, und zwar gerade die grenzüberschreitende, bestimmt eine der positivsten Erfahrungen, die sich aus heutiger Sicht aus dem Hochwasser ableiten lassen. Auf alle Menschen trifft dies jedoch natürlich nicht zu. In den evakuierten Gebieten kam es vereinzelt zu Plünderungen, und ein Mann hatte Spenden für die Hochwasseropfer gesammelt, die sich letztlich als Spenden in die eigene Tasche entpuppten. Alles in allem handelte es sich dabei jedoch eher um Einzelfälle. Und wer etwa das weitgehend unaufgeregte tägliche Verkehrschaos in Prag erlebt hat, als viele der üblichen Verbindungen abgeschnitten waren, der konnte sich doch vom Zusammenhalt der Menschen in der Not überzeugen.


Werfen wir zum Abschluss einen Blick auf das Altstädter Moldauufer. Ein paar Meter unterhalb der Karlsbrücke, direkt am Wasser gelegen, hat eine mittelgroße Steuerberatungskanzlei ihren Sitz. Uns mag sie heute als ein recht beliebiger, aber doch auch wieder recht exemplarischer Fall gelten: Sie war zwar in den Tagen der Flut aufgrund ihrer exponierten Lage besonders gefährdet, hatte aber, wie viele andere Menschen und Betriebe auch, letztlich dann doch irgendwie Glück im Unglück. Die Angestellte Katka erinnert sich an die Ereignisse vor einem Jahr:

"Wir hatten viel Glück, weil unser Büro ein bisschen höher steht als die anderen Häuser in der Nachbarschaft. Wir hatten das Wasser nur im Keller. Aber trotzdem mussten wir viele Maßnahmen treffen. Wir haben viele Dinge, vor allem Dokumente, aus dem Keller und aus dem ersten Stock gebracht. Und vor die Türen haben wir Sandsäcke gelegt."

Und was passierte mit der Firma während der Hochwassertage?

"Diese Niederlassung war geschlossen. Wir hatten keinen Strom und keine Möglichkeit zu telefonieren. Und das ganze Gebiet hier war gesperrt. Als Büro hatten wir nur ein Provisorium. Das war bei einem von unseren Mandanten, der uns für zwei Wochen ein Zimmer gegeben hat."

Katka übrigens wohnt in Kladno, etwa 30 Kilometer von Prag entfernt. Unmittelbar dort hat es keine Überschwemmungen gegeben. Ihr Arbeitskollege Libor hatte es da schon schwerer: Er wohnte im völlig überfluteten Stadtteil Karlin. In seine damals zerstörte Wohnung ist er bis heute nicht wieder eingezogen. Seit einem Jahr wohnt er sozusagen provisorisch. Mal hier, mal da.


U-Bahnstation Florenc,  August 2002  (Foto: Dopravni podnik hl. m. Prahy)
Die meisten der sichtbaren Hochwasserfolgen sind mittlerweile beseitigt. Seit Ende März ist auch die Prager U-Bahn, von der weite Strecken ein Opfer der Fluten geworden waren, wieder vollständig in Betrieb. Was bleibt nun in der Tschechischen Republik, abgesehen von den Tausenden Einzelschicksalen, heute noch von der Katastrophe? Etwa die Angst vor künftigen Überschwemmungen und der damit einhergehende fieberhafte Aufbau von Schutzmaßnahmen. Die Sorgen wegen noch nicht bewältigter Umweltschäden, wie sie im überschwemmten Chemiewerk Spolana im mittelböhmischen Neratovice entstanden waren. Und vor allem der finanzielle Aspekt. Denn der Schaden, der durch das Hochwasser entstand, wird wie gesagt auf 73 Milliarden Kronen geschätzt. Angesichts der Finanzreform, bei der die tschechische Regierung bis zum Jahr 2006 200 Milliarden Kronen einsparen will, um sich den EU-Maastricht-Kriterien anzunähern, wird wohl klar, in welcher Größenordnung sich hierzulande die langjährigen Folgen der Flut bewegen werden.