„Die Menschen sind wütend“ - Jaroslav Kuchař über den wachsenden Unmut tschechischer Wähler

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Immer lauter wird der Widerstand der tschechischen Wähler gegen die politische Elite im Land. Insbesondere wenden sie sich gegen die große Koalition aus Sozialdemokraten und Bürgerdemokraten, die sich derzeit im Prager Magistrat formiert – und damit das ausdrückliche Signal der Wähler ignoriert. Die Prager hatten bei den jüngsten Kommunalwahlen die alte politische Garde abgewählt und die neue Partei von Karel Schwarzenberg, TOP 09, zur stärksten Fraktion gemacht. Die Organisation „Vyměňte politiky“ („Tauscht die Politiker aus“) hatte vergangene Woche zu einer großen Demonstration gegen die Prager Politik aufgerufen. Über die Proteststimmung bei den Tschechen nun ein Interview mit Jaroslav Kuchař von „Vyměňte politiky“.

Am 17. November haben mehr als 2000 Menschen demonstriert gegen eine große Koalition in Prag  (Foto: Martina Schneibergová)
Herr Kuchař, am 17. November, dem tschechischen Nationalfeiertag zur Erinnerung an die Samtene Revolution, haben mehr als 2000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz demonstriert, gegen eine große Koalition in Prag. Ein Zeichen dafür, dass die tschechischen Wähler langsam merken, dass sie auch ein Wörtchen mitzureden haben?

„Wir haben diese Demonstration erst 24 Stunden vorher angekündigt. Und dass weit mehr als 2000 Menschen spontan gekommen sind, zeigt, dass die Leute wirklich wütend sind. Auf der anderen Seite haben viele begriffen, dass es so einfach nicht weiter geht, dass wir uns selbst kümmern müssen um die öffentlichen Angelegenheiten und sie nicht einfach den Politikern überlassen können. Das haben mittlerweile schon sehr viele Menschen hier verstanden.“

Initiative ´Vyměňte politiky´ – deutsch: tauscht die Politiker aus
Wann haben Sie das selbst begriffen, wann haben Sie angefangen, sich politisch zu engagieren – oder besser: sich gegen die hiesige Politik zu engagieren?

„Das war ein langer Weg. Ich persönlich bin der Auffassung, dass meine Generation plus minus zehn Jahre – das heißt die heute 35- bis -55-Jährigen – direkt mitverantwortlich ist für die heutige Situation. Wir haben 1989 die Samtene Revolution gemacht und hätten eigentlich wissen müssen, dass wir danach die Macht nicht in fremde Hände legen dürfen. Das war unsere Naivität, und ich finde, wir sind es unserem Volk schuldig, jetzt etwas dafür zu tun, dass sich die Situation ändert.“

Jaroslav Kuchař
Ihre Initiative ´Vyměňte politiky´ – deutsch: tauscht die Politiker aus - will auf der einen Seite die Wähler zu mehr Engagement aufrufen, auf der anderen die Politiker zu mehr politischem Verantwortungsbewusstsein, soll vor allem heißen: weniger Korruption. Was die Wähler angeht, sind Sie seit der Gründung Ihrer Initiative in diesem Frühjahr sehr erfolgreich: In den Parlamentswahlen im Mai haben die Wähler den beiden großen Parteien einen klaren Denkzettel verpasst, bei den Prager Kommunalwahlen die seit 20 Jahren regierende Bürgerdemokraten (ODS) abgewählt, die Menschen gehen wieder demonstrieren. Wie sieht es mit den Politikern aus?

Quelle: www.vymentepolitiky.cz
„Es gibt verschiedene Typen von Politikern. Wir unterscheiden sie auf einer Skala von eins bis fünf – vom anständigen Politiker, der aus Idealismus in die Politik geht, bis hin zum Parasiten, der sich nur auf Kosten anderer bereichern will. Diese letzteren werden wir nicht mehr ändern. Aber die in der Mitte, denen können wir Angst einjagen. Korruption ist jetzt zu einem Riesenthema geworden in den Medien, es werden verschiedene Korruptionsskandale aufgedeckt. Und so werden sich viele Politiker vielleicht sagen, dass es ihnen nicht wert ist, sich da reinziehen zu lassen.“

Dieses Jahr war in Tschechien ein Superwahljahr, mit Parlaments-, Senats- und Kommunalwahlen. Das Interesse an Politik ist größer als sonst. Wie wird es weitergehen im nächsten Jahr? Haben Sie nicht Angst, dass die Bürger unglaublich demotiviert sind durch das Signal der großen Koalition in Prag? Man hat eine Partei gewählt, sie landet in der Opposition, man kann demonstrieren, aber die Politiker tun, was sie wollen.

Auch die bekannten Persönlichkeiten der tschechischen Kultur wie Jakub Prachař  (links) helfen der Initiative  (Foto: www.vymentepolitiky.cz)
„Selbst wenn sich die große Koalition eine Zeitlang aufrechterhalten lässt, gibt es schon heute Tausende Menschen, die den Politikern auf die Finger sehen werden. Und ich glaube fest, dass in Prag und auch in anderen Städten endlich auch die Oppositionspolitiker das tun werden, was ihre Aufgabe ist: die Regierung wirklich zu kontrollieren. Und Organisationen wie unsere werden das nach allen Kräften unterstützen.“

Wie viel müssen die Tschechen noch demonstrieren, damit es dazu kommt?

„Ich glaube, es reicht jetzt schon. Es gibt in Tschechien unzählige Menschen und Organisationen, die sich engagieren. Jetzt geht es vor allem um eines: diese Menschen zusammenzubringen, sie im Sinn ihrer Arbeit zu bestärken und Synergieeffekte zu erzeugen. Und so ein starkes, handlungsfähiges Netz aufzubauen.“

Webseite www.vymentepolitiky.cz
Ist es nicht auch eine Frage der Mentalität, dass viele hiesige Politiker kein Verantwortungsgefühl haben gegenüber den Bürgern, dass sie sich ignorant über den Bürgerwillen hinwegsetzen? Glauben Sie, es ist eine Generationenfrage und es muss erst eine neue Generation von Politikern heranwachsen?

„Ich glaube, das ist weniger ein Generationenproblem als vielmehr ein Problem der allgemeinen Moral. Keiner der Politiker, die seit den 1990er Jahren an der Macht sind, hat jemals irgendeine Vision entwickelt, es ging immer nur um pragmatische Alltagsfragen. Und das ist schlecht. Tschechien braucht eine Vision und eine klare Richtung – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch. Darüber hat unsere Elite mit Ausnahme von Václav Havel und einigen anderen nie gesprochen.“

Sie haben gesagt, Sie empfinden eine Schuld gegenüber ihrem Volk, weil Sie selbst sich nicht genügend darum gekümmert haben, dass gegen schlechte Politik demonstriert wird. In welchem Moment, glauben Sie, haben Sie und andere Akteure der Samtenen Revolution es verpasst, für eine andere Politik zu sorgen?

„Ich denke, es gab drei Schlüsselmomente: Der erste war die Privatisierung in den 1990er Jahren. Damals hat keiner von uns kapiert, worum es eigentlich geht. Dass wir eine Legislative brauchen, damit es nicht ein einzige Plünderung wird. Der zweite Moment war 1998 der so genannte Oppositionsvertrag - eine Art Duldungsabkommen der beiden größten Parteien, dessen Folgen wir noch heute spüren. Und der dritte Punkt war die Initiative „Danke, ihr könnt gehen“ von 1999. Damals haben hunderttausend Menschen auf dem Wenzelsplatz gegen die politische Elite demonstriert, aber wir haben das damals nicht zu Ende geführt, sondern sind frühzeitig alle wieder in unseren eigenen Alltag zurückgekehrt.“

Haben Sie keine Angst, dass das jetzt wieder passiert, dass die Menschen frustriert resignieren, weil die Politiker sowieso machen was sie wollen, auch wenn demonstriert wird?

„Theoretisch kann das passieren. Aber ich glaube, die Zeit ist heute eine andere als vor zehn Jahren. Wenn wir jetzt nichts tun, verschulden wir unsere Kinder so sehr, dass sie sich nur schwer wieder davon befreien werden. Griechenland und Irland sind abschreckende Beispiele, und viele Menschen verstehen das intuitiv. Es geht gar nicht darum, dass alle zehn Millionen Tschechen das begreifen müssen. Es reicht, wenn es 50.000 sind, die aktiv und kontinuierlich etwas dagegen tun, und eine weitere halbe Million wenigstens gelegentlich. Und die beeinflussen dann die restlichen und wählen bei den nächsten Wahlen entsprechend.“