Die Verführungskraft des Selbstverständlichen. Sozialistische Diktatur als Sinnwelt
Sozialistische Diktatur als Sinnwelt. Das ist der Name eines gemeinsamen Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte in Prag und des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Tschechische und deutsche Historiker wollen dabei gemeinsam den Mechanismen der Macht auf die Spur kommen, die östlich des Eisernen Vorhangs 40 Jahre lang geherrscht hat.
Wie hat er eigentlich funktioniert, der kommunistische Machtapparat in Osteuropa? Jedenfalls nicht nur über Unterdrückung und Angst, meinen die Historiker, die nun in einem gemeinsamen Forschungsvorhaben nach neuen Antworten suchen. Nicht die Abnormität des kommunistischen Projekts soll dabei im Mittelpunkt stehen, sondern seine vermeintliche Normalität. Der bisher in Ostmitteleuropa vorherrschende Totalitarismusansatz reicht dabei nicht mehr aus, meint der Prager Historiker Pavel Kolar, der heute am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam arbeitet.
"Dieser Ansatz war vereinfachend, weil er die kommunistische Diktatur in zwei gegenüberliegende Pole aufteilte. Auf der einen Seite stand die Partei, die Herrschaft, auf der anderen Seite die Gesellschaft, und diese beiden Pole standen einander frontal gegenüber. Wir hingegen betonen in dem neuen Forschungsprojekt, dass Herrschaft immer eine soziale Beziehung ist, eine wechselseitige Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten, ein Geflecht von verschiedenen Erfahrungen, Interessen und Auseinandersetzungen."
Vom Staat errichtete Institute des Nationalen Gedächtnisses bezeichnet Kolar als "historische Großkombinate mit den immer gleichen Ergebnissen", die diesem Anspruch nicht gerecht werden können:"Die Dominanz dieser bipolaren Perspektive ist natürlich auch ein Teil der politischen Kultur. Es geht dabei darum, sich von der Diktatur zu distanzieren und sich auf eine neue demokratische Ordnung zu berufen. Und weil die Zeitgeschichte die Geschichte der lebenden Generation ist, ist sie ein Teil dieses politischen Prozesses. Aber jetzt, mit einigem Abstand, ist glaube ich die Zeit gekommen, um die Verschränkung zwischen Politik und Geschichtswissenschaft wieder etwas aufzulösen."
Untersuchungsgegenstand soll nicht eine ideologisch motivierte Beziehung von Herrschern und Beherrschten sein, sondern die inszenierte Beteiligung der Massen, die alltägliche Normalität struktureller Gewalt, die Verführungskraft des vermeintlich Selbstverständlichen.
"Wir bewegen uns in unseren Forschungen sozusagen eine Ebene tiefer, unter der Ideologie, im Alltag. Also in dem, was wir Sinnwelt nennen, was aber in gewissen Situationen politisiert oder wieder entpolitisiert werden konnte."
Sechs Promotionen und zwei Habilitationen sollen in den nächsten drei Jahren entstehen. Außerdem will das Projekt durch die Veranstaltung von internationalen Kolloquien zur Drehscheibe der zeithistorischen Forschung in Zentraleuropa werden.