Die langen Schatten des Freiheitszuges
Am 11. September 1951 flüchteten 27 tschechoslowakische Bürger mit einem Personenzug in die BRD. Die Organisatoren der Gruppenflucht leiteten den Zug illegal bei Aš über die Staatsgrenze nach Bayern um. Sie hatten sich zuvor im antikommunistischen Widerstand engagiert. Der Zug hielt ein Stück vor dem Bahnhof Selb-Plößberg. Für die Asylanten und 90 andere Personen, die in dem Zug mitfuhren, war die Reise damit jedoch nicht zu Ende. Zum 70. Jahrestag wurde bei einer deutsch-tschechischen Veranstaltung auf dem Hauptbahnhof von Aš an den Freiheitszug erinnert. Im Folgenden ein Bericht über die einzigartige Fluchtaktion und die Gedenkveranstaltung.
Für den Fahrdienstleiter Karel Truksa und den Lokomotivführer Jaroslav Konvalinka spitzte sich die Lage Anfang September 1951 dramatisch zu. Sie erfuhren aus Kreisen von Widerstandskämpfern, dass Haftbefehle gegen sie erlassen worden waren. Die beiden Eisenbahnbediensteten hatten sich seit 1948 im Grenzgebiet von Cheb / Eger bis Aš / Asch als Fluchthelfer betätigt. Unter anderem hatten sie Kontakt zum Arzt Jaroslav Švec aus Aš. Auch er leistete aktiv Widerstand gegen das kommunistische Regime und sollte festgenommen werden. Truksa, Konvalinka und Švec kannten nicht nur die Verhältnisse an der Grenze genau, sondern auch die Bahnstrecke nach Selb-Plößberg. Sie hätten aus der Zeit vor 1945 sogar einen Beamten des dortigen Bahnhofs gekannt, berichtet der frühere Bahnbeamte und Zeitzeuge Rolf Swart:
„Der Dienststellenleiter war damals Max Schmauß. Herr Schmauß war gebürtiger Ascher, und er hatte seine ganze Dienstzeit bis zum Kriegsende am Bayerischen Bahnhof in Asch verbracht. Dann kam er aufgrund seiner Ausweisung nach Selb und wurde am Bahnhof Selb-Plößberg angestellt.“
Geheimtreffen und Fluchtpläne
Truksa und Konvalinka hatten schon seit Längerem Fluchtpläne geschmiedet für den Fall, dass ihnen eine Verhaftung drohte. Sie erwogen eine Flucht mit einer Lok oder einem der tschechoslowakischen Güterzüge, die täglich bei Cheb und Aš über die deutsche Grenze fuhren. Doch Anfang September überstürzten sich die Ereignisse. Noch mehrere andere Personen aus Netzwerken von Widerstandskämpfern, die von Aš über Karlovy Vary / Karlsbad nach Prag und weiter bis zur polnischen Grenze reichten, mussten sich dringend in Sicherheit bringen. Auch ihnen drohte bei einer Aufdeckung langjähriger Kerker oder die Todesstrafe. Bei mehreren Geheimtreffen suchte man hektisch nach Lösungen, bei denen man möglichst viele politische Flüchtlinge einbeziehen könnte. Am 9. September fiel schließlich die Entscheidung. Karel Truksa schrieb darüber später in seiner Autobiographie „Zur Sonne der Freiheit“:
„Am Sonntagnachmittag kamen Jarda Konvalinka und Doktor Švec zu mir. Plötzlich äußerte Konvalinka einen Vorschlag, der ihm erst am Morgen eingefallen war. Nämlich, dass wir statt des ursprünglichen Planes, einen Güterzug zu benutzen, der uns vor einige Probleme stellte, mit einem Personenzug flüchten könnten.“
Als Fluchtzug wurde der Personenzug Nr. 3717 bestimmt, der täglich um 14.09 Uhr vom Bahnhof Cheb nach Aš abfuhr. Diesen Zug benutzten zahlreiche Schüler und Patienten des Kurbades Františkovy Lázně / Franzensbad. Truksa und Konvalinka machten die Notbremse des Zuges unbrauchbar, präparierten die Weichen beim Hauptbahnhof Aš, dem ehemaligen Bayerischen Bahnhof, und postierten bewaffnete Bewacher an den Rädern der Handbremsen in den drei Reisewagen. Einer von ihnen war der 23 Jahre junge Widerstandskämpfer Karel Ruml aus Nymburk. Er schrieb später in seinen Erinnerungsbuch „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“ über die dramatischen Momente der Flucht:
„Ein Stück vor Asch schien es mir, als ob der Zug langsamer würde, was mir einen Augenblick lang einen ohnmächtigen Schrecken einjagte. Sogleich begannen wir jedoch so sehr zu beschleunigen, dass wir wie ein Schnellzug in den Bahnhof einfuhren, und mit derselben Geschwindigkeit fuhren wir weiter. Die Räder hüpften auf den Weichen, von denen ich noch immer nicht wusste, ob sie in unsere Richtung gestellt waren. Im Waggon brach Panik aus.“
Die tschechoslowakische Grenze war durch Grenztruppen, Wachtürme und Minenfelder gesichert. Dennoch konnte der Zug sie ungehindert passieren. Nach der Gruppenflucht mit dem Passagierzug sei eine Entgleisungsanlage gebaut worden, erzählt der Bahnhistoriker Bohuslav Karban.
„Das waren Betonblöcke neben dem Gleis, in die Stahlbalken eingeführt waren. Wenn gemeldet worden wäre, dass ein Zug in Richtung Westdeutschland weiterfährt, wären diese Balken senkrecht zum Gleis ausgefahren worden und hätten den Zug durch Entgleisung gestoppt“, so Karban.
Die Kontrolle der Güterzüge wurde ebenfalls verschärft. Angehörige der Grenzwacht überwachten den gesamten Bahnverkehr von einer Gleisbrücke aus. Der Grenzdurchbruch des Passagierzuges erregte ein enormes Aufsehen in der westlichen Welt. Journalisten aus vielen Ländern strömten nach Selb-Plößberg. Schon bald war das Schlagwort „Freiheitszug“ geprägt. Auf den Wellen von Radio Freies Europa (RFE), dessen Hauptsitz damals in München war, ertönte ein Lied mit dem Titel „Mr. Konvalinka“. Das Stück hatte Josef Stelibský komponiert, es wurde von Mirko Wrbeč in Begleitung des Rundfunkorchesters von RFE gesungen.
Politische Flüchtlinge und Rückkehrer
Auf dem Bahnhof Selb-Plößberg bestaunte die lokale Bevölkerung die Lokomotive mit dem roten Stern. Die Zuggarnitur war schon deswegen eine Sensation, weil der Personenverkehr auf der Bahnstrecke nach Aš nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr aufgenommen worden war. Zeitzeuge Hans Joachim Goller erinnert sich an die politischen Flüchtlinge des Freiheitszuges, die vorübergehend im Rot-Kreuz-Heim in Selb untergebracht wurden. Sein Elternhaus sei an der Rückseite dieses Gebäudes gewesen, berichtet Goller:
„Ich stand am Küchenfenster, blickte hinüber und sah, dass die Leute manchmal in den Hof durften, um sich die Füße zu vertreten und frische Luft zu schnappen. Und ich beobachtete auch Amerikaner, die mit ihren Jeeps vorfuhren.“
Um den brisanten Grenzzwischenfall kümmerten sich Offiziere der US-Besatzungsmacht. Am 12. September wurden die unbeteiligten Reisenden und das Zugpersonal auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr gebracht. Einen Tag später wurden sie an der Grenze bei Wildenau den tschechoslowakischen Behörden übergeben. Eine von ihnen war Milena Šnáblová, damals eine fünfzehnjährige Schülerin. Sie berichtet, dass alle Rückkehrer vom Staatssicherheitsdienst verhört worden seien, manche mehrmals.
„Da waren große Lampen, die einen anstrahlten, in der Mitte ein Tisch und ein Stuhl. In jeder Ecke des Raumes stand ein Mann im Halbdunkel. Und aus allen vier Ecken prasselten Fragen auf mich ein. Ich habe noch heute ein Gefühl panischen Schreckens, wenn ich daran zurückdenke“, so die Zeitzeugin über die Verhöre.
Insgesamt kehrten 80 Personen heim, 35 weitere entschieden sich für das Exil. Zusätzlich zu den 27 politischen Flüchtlingen, die schon mit dieser Absicht in den Zug gestiegen waren, entschlossen sich in Bayern noch acht Menschen, politisches Asyl zu beantragen. Mindestens zwei Uniformierte rannten gleich nach dem ersten Anhalten des Zuges unweit der Grenze in die Tschechoslowakei zurück.
Freiheit und Haftstrafen
Die Asylbewerber durchliefen mehrere deutsche Flüchtlingslager, bevor sie in ihre Zielländer weiterreisen konnten. Die meisten von ihnen ließen sich in Kanada nieder. Einige wechselten im Exil mehrmals die Wohnorte, so auch die Familie Švec. Der Arzt aus Aš zog mit seiner Frau und den drei Söhnen zuerst nach London, dann lebte die Familie ein Jahrzehnt in Äthiopien, bevor sie schließlich ein Visum für die Vereinigten Staaten erhielt. Verwandte und Bekannte der Familie Švec wurden unterdessen in der Tschechoslowakei strafverfolgt und zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im sozialen Umfeld der übrigen Geflüchteten kam es ebenfalls zu zahlreichen Strafprozessen. Die Schatten des Freiheitszuges reichen daher bis in die Gegenwart. Eine Verwandte der Familie Švec, die Anglistin Vlasta Lišková, hat sich mit ihrer Familiengeschichte abgefunden. Freiheit sei für sie ein hohes Gut, sagt Lišková:
„Mit der Samtenen Revolution fiel die ersehnte Freiheit wie ein Kugelblitz bei uns ein. Eine wunderbare Freiheit, die jedoch auch gefährlich ist. Vor allem aber zwingt sie uns, selbst zu entscheiden, was gut und was schlecht ist. Niemand schreibt uns das vor, doch es hilft uns auch niemand dabei. Alles hängt nun allein von uns ab.“
Anlässlich des 70. Jahrestages der Flucht mit dem Freiheitszug wurde auf dem Ascher Bahnhofsgelände mit einer Veranstaltung unter dem Motto „Wege in die Freiheit“ an dieses historische Ereignis erinnert. Ein regionaler Tag der Eisenbahn umrahmte die Veranstaltung. Neben historischen Zügen mit Dampfloks und Musik der Pilsner Band „Dixie Hot Licks“ gab es Ausstellungen, Vorträge und Podiumsgespräche zur Zeitgeschichte. Seitens der Stadt Selb wurde der Tag von der gemeinnützigen Gesellschaft Selb23 mitorganisiert. Geschäftsführer Pablo Schindelmann findet, dass der Freiheitszug ein wichtiges Thema für eine gemeinsame Geschichtsaufarbeitung sei:
„Über Geschehnisse im Grenzland, vor allem solche, die direkt an der Grenze stattfanden, gibt es meistens mehrere Versionen. So auch beim Freiheitszug. Damit wir die Hintergründe besser verstehen und daraus für die Zukunft lernen können, ist es wichtig, dass dieses Thema ein Anlass für eine gemeinsame Erinnerungskultur zwischen den Städten Asch und Selb, aber auch für überregionale Institutionen ist.“
Weitere Informationen hat die Autorin des Beitrags auf der Website https://www.freiheitszug-vlak-svobody.org veröffentlicht.