Disharmonien im Wohlklang: Frauenchor Haeri singt polyphone Volkslieder aus Georgien
Zur Adventszeit gehört das gemeinsame Singen. Vielerorts in Tschechien treten in diesen Tagen Chöre auf und tragen bekannte oder auch weniger bekannte Weihnachtslieder vor. Ein besonderes Ensemble ist Haeri – ein sechsköpfiger Frauenchor aus Prag, der polyphone Volkslieder aus Georgien singt. Wir waren bei einem Auftritt von Haeri beim Adventsmarkt einer der Waldorfschulen der Stadt dabei. Im anschließenden Gespräch mit zwei der Sängerinnen ging es unter anderem darum, was das traditionelle georgische Liedgut so interessant macht.
Die georgische Sprache sieht in ihrer Schriftform aus wie gemalt. Und die archaischen Volkslieder lassen erahnen, wie alt die Sprache ist. Sechs junge Frauen aus Prag sind davon so fasziniert, dass sie das traditionelle Gesangsgut aus dem Land am Kaukasus mit viel Ausdauer einstudieren und dem tschechischen Publikum präsentieren. Der Name ihres Chores, Haeri, ist das georgische Wort für Luft.
Keti ist eine der sechs Sängerinnen. Und sie ist Georgierin. Stammte die Idee für Haeri also ursprünglich von ihr?
„Nein. Ich bin ganz unerwartet auf den Chor und die Mädels gestoßen. Ich glaube, es war ein georgischer Abend in Prag vor etwa acht Jahren. Ich war mit einigen Freunden vom Studium dort. Die Mädels vom Chor sangen georgische Lieder, und ich weiß noch, dass ich ganz begeistert war. Denn es waren Tschechinnen und eine Französin, die so schön georgisch sangen.“
Die Französin, von der hier die Rede ist, heißt Anaïs – und ist im Übrigen eine Kollegin aus der französischen Redaktion von Radio Prag International. Auch sie sei bei der Entstehung des Chors zwar noch nicht dabei gewesen, aber kurz darauf dazugestoßen, berichtet Anaïs:
„Uns verbindet, dass wir alle georgische Musik mögen. Manche von uns haben sie zufällig für sich entdeckt. Andere interessierten sich einfach für polyphonen Gesang, so dass sie dann auf jenen aus Georgien stießen. Jedenfalls gibt es den Chor seit etwa zehn Jahren in verschiedenen Zusammensetzungen, und seit acht Jahren ist er ein rein weibliches Vokalensemble.“
Dass Keti als Georgierin – und selbst begeisterte Sängerin – quasi gar nicht anders konnte, als sich Haeri anzuschließen, erklärt sich beinahe von allein. Was macht die Volkslieder aus dem südkaukasischen Land aber für Tschechinnen und auch Französinnen so interessant? Anaïs berichtet:
„Als ich sie das erste Mal hörte, kam mir der gleiche Gedanke wie bei meiner ersten Begegnung mit bulgarischen Gesängen, die ebenfalls polyphon sind. Ich fragte mich, wie es möglich ist, dass die Lieder irgendwie falsch klingen, aber trotzdem gut. Dies liegt nämlich daran, dass die Harmonien anders sind als im Rest Europas üblich. In unseren europäischen Ohren mag georgische Musik zu Beginn etwas ziehen, denn die Intervalle sind anders und es gibt viele Dissonanzen.“
Mitunter brauche das Publikum hierzulande bei Konzerten von Haeri erst eine Weile, um sich an die Art des Singens zu gewöhnen, fährt Anaïs fort. Aber auch die Chormitglieder selbst müssten sich die Lieder erarbeiten…
„Georgische Gesänge sind sehr anspruchsvoll, denn sie werden dreistimmig gesungen. Wenn eine Stimme fehlt, dann funktioniert es nicht. Alle drei Stimmen müssen vertreten sein. Allerdings hat keine von ihnen eine eigene Melodie. Die Gesamtmelodie entsteht erst aus der Verbindung der drei Stimmen.“
Anspruchsvolle dreistimmige Gesänge
Es sei kaum zu bestimmen, wann genau jene Volkslieder entstanden seien, die die georgische Gesangstradition bilden, bemerkt Anaïs. Laut dem Begleittext zur CD, die der Chor Haeri 2021 veröffentlicht hat, reicht die Datierung bis in die vorchristliche Zeit zurück. Die Texte seien entsprechend universell, sagt Anaïs, und Keti ergänzt:
„Die polyphonen Volkslieder sind in den Dörfern entstanden. Wenn etwa eine Frau ein Kind hatte, brauchte sie Wiegenlieder. Musste ihr Mann in den Krieg ziehen, dann handelten ihre Lieder davon, dass er zurückkommen soll. Außerdem gibt es viele Stücke über die Liebe und auch über die Arbeit auf dem Feld oder zu Hause.“
Und der Wein sei noch wichtig, wirft Anaïs lachend ein. Oft kämen in den Liedtexten entweder das Getränk oder die Weinberge vor. Und auch Kirchenlieder fänden sich im Programm von Haeri. Den Großteil bilden aber folkloristische Lieder. Und weiter erläutert Keti:
„Georgische polyphone Gesänge sind so vielfältig, weil jede Region im Land ihre spezifische Musik hat. In West- und Ostgeorgien gibt es jeweils andere Melodien, und auch die Struktur der Dreistimmigkeit ist unterschiedlich. Im Osten etwa singt die dritte Stimme sehr kräftig, und die erste und zweite Stimme spielen miteinander. Im Westen hingegen haben alle drei Stimmen ihre eigene Geschichte, und dadurch klingt es anders. Es lässt sich erkennen, ob die Lieder etwa aus den Bergregionen kommen – dann haben sie eine eher harte Melodie – oder aus den Küstengebieten, dann sind sie von arabischen Motiven beeinflusst.“
Bei ihren Auftritten zur Adventszeit haben die sechs Damen von Haeri selbstverständlich auch thematisch passende Stücke im Programm. Dazu Keti:
„Ein bekanntes Weihnachtslied ist 'Alilo', und auch dafür hat jede Region wieder ihre eigene Melodie. Wir singen es darum in verschiedenen Versionen, denn jede bildet eine schöne Musik. Die Worte sind aber immer die gleichen, dass nämlich Jesus geboren wurde.“
Jede Region Georgiens hat ihre Melodien
Etwa 120 Lieder hat der Chor Haeri derzeit im Repertoire. Dabei würden sie aus mehreren Quellen schöpfen, so Anaïs:
„Ein Chormitglied hat eine Weile in Georgien gelebt und die Lieder dort gesammelt. Des Weiteren gibt es verschiedene Liederbücher für europäische Chöre. Das heißt natürlich, dass jeder Chor in Europa mit dieser Ausrichtung etwa die gleichen zehn georgischen Lieder singt. In den letzten Jahren schauen wir uns zur Inspiration zudem viele Choraufnahmen auf Youtube an und legen anhand dessen die Singstimmen fest.“
Es sei dann vor allem an Keti, die Texte herauszuhören, fügt Anaïs an. Aber auch diese fänden sich einschließlich der Noten inzwischen häufig im Internet, wirft die Georgierin ein. Und es gebe zudem Freunde in ihrem Heimatland, die immer wieder auf passende Volkslieder aufmerksam machten.
Die wahrscheinlich beste Inspiration finden die Mitglieder von Haeri allerdings, wenn sie in Georgien selbst unterwegs sind. Zweimal hätten sie das Land bereits gemeinsam bereist und seien auf Folklorefestivals aufgetreten, erinnert sich Keti. Das dortige Publikum sei begeistert, ergänzt Anaïs:
„Die Leute sagen immer, wir würden super klingen. Dabei wissen wir genau und hören es auch, dass wir nicht so gut wirken wie die Georgier selbst. Aber ich glaube, die Menschen finden es toll, dass sich jemand für ihre Musik interessiert und damit beschäftigt. Tatsächlich stecken wir viel Zeit und Energie in den Chor, wir proben einmal die Woche…“
Keti führt den Satz zu Ende:
„… und außerdem sind die Texte für Ausländer schwierig zu lernen und auszusprechen.“
Dabei war es aber gerade ein Ausländer und dazu noch ein Tscheche, der 1886 in Georgien den ersten professionellen Polyphonie-Chor gründete. In seiner Wahlheimat nannte er sich Ratili. Und weiter sagt Anaïs:
„Leute, die sich mit dieser Musik auskennen – wie eben die Georgier –, sagen uns häufig, dass wir als Chor aus Tschechien quasi die Kinder von Ratili seien. Der Tscheche Ratili, mit bürgerlichem Namen Josef Navrátil, war eine wichtige Person, die zur Bekanntheit der Volksgesänge beigetragen hat. Er war Tenor, lebte im 19. Jahrhundert in Georgien und leistete viel Arbeit für die einheimische Polyphonie. Heute ist er in Georgien viel bekannter als in Tschechien.“
Mittlerweile leistet also der Chor Haeri seinen Beitrag zur Verbindung der Traditionen beider Länder. Die sechs Sängerinnen tragen bei ihren Auftritten lange Röcke mit dem traditionellen Blaudruck aus der Gegend um die südmährische Stadt Strážnice / Strassnitz. Die Region bildet das Zentrum der Folkloretradition der Mährischen Slowakei, jedes Jahr im Sommer findet dort ein bedeutendes internationales Festival statt. Die Damen von Haeri würden keine georgischen Trachten tragen wollen, da die meisten von ihnen eben nicht aus dem Land stammten, begründet Anaïs. Also habe man sich für die Tradition des eigenen Landes entschieden. Der Schnitt der Röcke entspreche aber jenem, den Frauen in Georgien gewöhnlich tragen. Und dort käme ihr Bühnenoutfit auch super an, ist Anaïs stolz und verweist auf die nächsten Pläne des Ensembles:
„Vielleicht können wir hier schon verraten, dass wir für den Sommer 2024 erneut eine Reise nach Georgien planen. Wir hoffen, dort für längere Zeit bleiben zu können – alle zusammen, einschließlich unserer Kinder. Diese singen zwar noch nicht, aber es könnte ja vielleicht einen Kinderchor geben. Das wird unsere dritte gemeinsame Reise nach Georgien als Chor. Dabei werden wir wahrscheinlich bei einigen Festivals für Volksgesänge auftreten und hoffentlich auch einige neue Stücke einstudieren.“
Die Damen von Haeri bleiben also inspiriert und für das tschechische Publikum hoffentlich auch inspirierend.