Dissidentenbewegung Charta 77 wurde vor 25 Jahren gegründet
Wie in den meisten anderen europäischen Ländern wurde das neue Jahr 2002 auch in Tschechien mit Böllern, Feuerwerk und viel Sekt begrüßt. Der diesjährige Neujahrstag hielt hierzulande jedoch auch ein relativ einzigartiges Jubiläum bereit - nämlich das 25-jährige seit der Gründung der ehemaligen Dissidentenbewegung Charta 77. Was es mit dieser Bewegung auf sich hatte und worin ihre Verdienste bestehen, dazu nun ein Beitrag von Lothar Martin.
Die Charta 77 war ein einzigartiges und bedeutendes Phänomen der modernen Geschichte. Sie war die erste und am längsten operierende Oppositions- bzw. Dissidentenbewegung in den Ländern des ehemaligen, von der Sowjetunion dirigierten sozialistischen Blockes, die auch andere Länder später zu ähnlichen Bewegungen inspirierte - so charakterisierte einer ihrer bedeutendsten Unterzeichner, der heutige Präsident der Tschechischen Republik Václav Havel, die Charta vor fünf Jahren. Seit der Herausgabe der ersten Deklaration der Charta 77, datiert vom 1. Januar 1977, ist nunmehr exakt ein Vierteljahrhundert vergangen. Der Impuls für die Entstehung der Charta waren die Veröffentlichung des Internationalen Vertrages über die Bürger- und die politischen Rechte und des Internationalen Vertrages über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die in der Schlussakte von Helsinki 1975 verankert waren. Diese Schlussakte war auch von den führenden Repräsentanten der damaligen Tschechoslowakei unterzeichnet worden, den damit verbundenen Konsequenzen wurde jedoch nicht Rechnung getragen. Und gerade auf diese Tatsache verwiesen die Autoren der ersten Charta-77-Deklaration, die sich die Respektierung und Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Die Deklaration vom 1. Januar 1977 war von 242 Bürgern unterschrieben worden. Bis zum Januar 1990 hatten sich bereits über 1800 Signataren zur Charta bekannt. Unter ihnen haben sich nur 25 Prozent von ihrer Unterschrift öffentlich distanziert. Dass sie es überhaupt taten, hängt mit den Repressionen des damaligen kommunistischen Regimes gegenüber Andersdenkenden zusammen. Diese begannen mit dem Verbot der Veröffentlichung sämtlicher Schriften der Charta 77 und gingen bis hin zu Verhaftungen, Verhören, Wohnungsdurchsuchungen und Landesausweisungen ihrer Mitglieder. Daher erschienen die Texte der Deklarationen und Verlautbarungen der Charta 77 in erster Linie auch in führenden westlichen Printmedien, während deren Rundfunk- und Fernsehstationen den Bürgerrechtlern der Charta sehr große Aufmerksamkeit zukommen ließen. Die Charta 77 verfolgte keine parteipolitischen Ziele, und sie profilierte sich auch nicht als ein Hort zur oppositionellen politischen Tätigkeit. Sie wollte vielmehr mit den politischen und staatlichen Machthabern in einen konstruktiven Dialog treten. Diese "unpolitische Politik" galt als eine Bedingung ihres politischen Programms - doch gerade deshalb stellte die Dissidentenbewegung für das damalige Regime eine Gefährdung für dessen Macht dar. Zumal die Charta 77 bis 1989 insgesamt 572 Dokumente herausbrachte, in denen sie sich offen zu verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Erscheinungen äußerte und dabei vor allem immer wieder die Verletzung der Menschenrechte anprangerte. Am 3. November 1992, knapp drei Jahre nach der politischen Wende in der ehemaligen Tschechoslowakei, stellte die Charta 77 ihre Tätigkeit ein. In ihrer Abschlusserklärung wird konstatiert, dass sie ihre historische Aufgabe erfüllt habe. Gestaltet und geprägt wurde die Tätigkeit der Charta 77 insbesondere von solchen Dissidenten wie dem heutigen tschechischen Präsidenten Václav Havel, den Schriftstellern Ludvík Vaculík und Pavel Kohout, dem Historiker Václav Komeda, dem ehemaligen Politiker des Prager Frühlings von 1968 Zdenek Mlynár oder auch den beiden Ex-Außenministern Jirí Hájek und Jirí Dienstbier.