„Jan Patočka. Philosoph und Staatsfeind“ – Ausstellung im Tschechischen Zentrum Wien

Jan Patočka

Jan Patočka (1907–1977) war Philosoph und einer der ersten Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Seiner Persönlichkeit ist derzeit eine Ausstellung im Tschechischen Zentrum Wien gewidmet. Die Besucher werden dabei in die ersten Monate des Jahres 1977 versetzt, von der Formulierung der Charta 77 bis zu Patočkas Tod am 13. März 1977. Anhand von Dokumenten und einer Installation werden nicht nur die Gedanken des Philosophen präsentiert, sondern auch dessen Überwachung als „Staatsfeind“ gezeigt und in den Kontext der damaligen Aktionskunst gestellt. Ludger Hagedorn vom Institut für Wissenschaften über den Menschen (IWM) hat das Konzept gestaltet. RPI hat mit ihm über die Ausstellung selbst, aber auch das Patočka-Archiv gesprochen, das seit den 1980er Jahren in Wien aufbewahrt wird.

Ludger Hagedorn | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Herr Hagedorn, in Wien findet eine Ausstellung über den tschechischen Philosophen Jan Patočka statt. Sie heißt „Jan Patočka. Philosoph und Staatsfeind“. Können Sie diese Persönlichkeit zunächst vorstellen? Worin beruht die Bedeutung von Patočka als Philosoph?

„Es ist unzweifelhaft, dass Jan Patočka vielleicht der wichtigste Philosoph Tschechiens oder der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert gewesen ist. Sein Einfluss in der Phänomenologie ist nach wie vor groß. Aber was auch untrennbar zu seinem Leben dazugehört, ist die politische Aktivität am Ende seines Lebens. Und auch diese zeigt die Ausstellung in Wien.“

Wie ist die Ausstellung konzipiert? Werden diese zwei Bereiche – Philosoph und Staatsfeind – getrennt präsentiert?

„Wir haben dazu eine ganz eingängige Idee entwickelt: Die Ausstellung im Tschechischen Zentrum haben wir in zwei räumlich klar strukturierte Bereiche getrennt. In der Galerie des Tschechischen Zentrums geht es vor allem um den Philosophen Jan Patočka. Und dann haben wir einen Extrabereich abgegrenzt im Keller, zu dem man wirklich eine lange Stiege hinuntersteigen muss, dort haben wir eine Installation zum Staatsfeind Jan Patočka. Diese besteht aus einer Projektion, wo wir verschiedene Dias zeigen, unter anderem Überwachungsphotographien des Geheimdienstes StB, und zwar sowohl von Patočka selbst als auch von seiner Beerdigung, aber auch private Photographien. Das alles ist verbunden mit einer Soundinstallation, wo man Patočkas eigene Stimme hört, in einem Gespräch mit dem damaligen niederländischen Außenminister Max van der Stoel. Es ist ein sehr bewegendes Dokument, in dem Patočka gegen Ende so gerührt ist, dass er kaum noch reden kann. Und als zweiten Teil der Installation haben wir Ausschnitte aus einem Verhörprotokoll mit Jan Patočka, übersetzt und nachgesprochen.“

Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Sie haben hier einige konkrete Sachen erwähnt – Verhörprotokolle, Verfolgung durch die Geheimpolizei StB… Können Sie zum Leben von Patočka etwas mehr sagen? Wie war sein Leben als Mensch und als „Staatsfeind“?

„Ich glaube, sein Leben als Staatsfeind war zu 99 Prozent unauffällig und hat ganz gegen Ende, eigentlich in den letzten Wochen eine dramatische Wendung genommen. Patočka war zu seiner Zeit, glaube ich, ein Stück weit als Philosoph marginalisiert. Er wurde nach 1949 mit einem Lehr- und Publikationsverbot belegt, das nur kurzfristig im Zuge des Prager Frühlings 1968 wieder aufgehoben wurde. Er durfte bis 1972 wieder an der Karlsuniversität lehren, wo er dann immerhin aus Altersgründen emeritiert wurde. Er setzte seine Lehrtätigkeit danach im Geheimen fort, das sind die bekannten Untergrundseminare, die an verschiedenen Orten stattfanden. All das war, glaube ich, noch nicht das ganz große Problem für die Staatssicherheit, und auch Patočka selbst hat sich damit nicht so weit aus dem Fenster gelehnt. Aber dann kam dieser entscheidende Moment der Formulierung der Charta 77. Der entscheidende Anstoß bestand in der Verhaftung der Musiker von Plastic People of the Universe und DG307. Und das war der Moment, in dem sich Patočka entscheiden musste. Wenn man das so sagen kann, ich glaube, unsere ganze Ausstellung dreht sich eigentlich genau darum. Das ist dieser eine Moment im Leben Patočkas, der alles verändert, aber das ist auch der eine Moment, mit dem viele Menschen gerade zu dieser Zeit konfrontiert waren.

Der Moment der Entscheidung

Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Wir haben viele künstlerische Ausdrucksformen für diese Entscheidungsfindung gefunden, ganz bevorzugt aus dieser Zeit. Wir haben das verbunden mit einem Blick auf die Philosophie, die man in vielen Zitaten dreisprachig an den Wänden sieht, Englisch, Deutsch und Tschechisch, aber auch mit einer ganz engen Anbindung an die Kunst und an künstlerische Positionen der Zeit. Von Petr Štembera stammt der Spruch: ‚Hätte es nicht die Zeit der Normalisierung, diese ungeheure Langweile und Drangsalierung dieser Zeit gegeben, dann wäre damals wahrscheinlich gar nicht die Aktionskunst entstanden‘. Und gerade diese Positionen, die wir in dieser Ausstellung behandeln, kommen weitgehend gerade aus dem Bereich der Aktionskunst, also etwa der gerade schon genannte Petr Štembera. Wir haben auch Jan Mlčoch, der zum Beispiel eine Performance gemacht hat, wo er sich auf den Boden gelegt und sich selbst eine halbe Stunde lang angespien hat, um dann aufzustehen, sich an einen Tisch zu setzen und ganz lange zu versuchen, eine Unterschrift auf ein Blatt Papier zu setzen. Dann bricht er auf und stellt fest, dass er diese Unterschrift nicht leisten kann. Das ist natürlich eine Stellungnahme dazu, wie man sich zu dieser Zeit verhalten musste. Soll man unterschreiben? Kann man unterschreiben? Was bedeutet es zu unterschreiben? Wie hasst man sich, wenn man nicht unterschreibt? Wie hasst man sich, wenn die Freunde und Kollegen das gemacht haben, man selber aber diesen Mut nicht aufbringen kann, weil man die Konsequenzen fürchtet. Also ich finde, da gibt es sehr viele Parallelen und Analogien, und das versuchen wir in dieser Ausstellung zu zeigen.“

IWM in Wien | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Wir treffen uns in Wien, im Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Das ist kein Zufall, denn gerade hier wurde und wird über Patočka geforscht. Patočka konnte zu seinen Lebzeiten kaum etwas von seinen Schriften veröffentlichen. Dies passierte erst nach seinem Tod und im Geheimen, und zwar sowohl in Prag als auch in Wien. Wieso?

„In Wien musste das zum Glück nicht geheim geschehen. Das war auch der Hauptgrund für die Entstehung des Patočka-Archivs, das an dem damals noch jungen Institut für die Wissenschaften aufgebaut wurde. Das Institut wurde 1982 gegründet, also fünf Jahre nach Patočkas Tod. Eines der wichtigsten Anliegen des Gründers, des polnischen Philosophen Krzystof Michalski, war es, seine Verbundenheit seinem Lehrer Jan Patočka gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Dies wollte er durch die Übersetzung, Verbreitung, und Erschließung seines Werkes tun. Es wurde dann in Wien am IWM ein Archiv seiner Schriften aufgebaut, das hauptsächlich aus Kopien der Manuskripte, Typoskripten und Publikationen bestand. Es wurde in Prag kopiert: Mein Kollege Ivan Chvatík schildert immer sehr eindrücklich, wie das vor sich ging, dass es zu dieser Zeit nämlich wahrscheinlich nur zwei Kopiermaschinen in Prag gab. Und die Kopien wurden dann hauptsächlich von Diplomaten, die ungenannt bleiben möchten, nach Wien gebracht, weil Diplomatengepäck nicht kontrolliert wurde.

Patočka-Archiv: In Prag kopiert und nach Wien geschmuggelt

Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

So wurde dieses Archiv in Wien aufgebaut. Seine wichtigste Aufgabe in den 1980er Jahren bestand darin, ein offiziell zugängliches Archiv der Schriften Jan Patočkas zu haben, das der Forschung zur Verfügung stand und auch rege genutzt wurde. In den folgenden Jahren wurde die erste deutsche Auswahlausgabe erstellt. Auch Teile der französischen Übersetzungen, die für die Rezeptionsgeschichte sehr wichtig sind, entstanden in Wien. Die Stadt Wien war einfach ein wichtiger Bezugspunkt für die anfängliche Erschließung und Übersetzung seines Werkes in verschiedene Sprachen. Und bis heute ist eine Drehscheibe der Patočka-Forschung geblieben. Es kommen nach wie vor Kolleginnen und Kollegen hier ins Haus, die sich mit Patočka beschäftigen. Wenngleich sich die Situation natürlich im Laufe der Jahre sehr verändert hat und mittlerweile so viel von ihm publiziert ist, dass man nicht immer diesen Rückgriff auf die ursprünglichen Manuskripte braucht.“

Eigentlich gibt es zwei Patočka-Archive. Sie haben von den Kopien gesprochen. Bedeutet das, dass das Archiv in Prag, das geheim gehalten werden musste und im Samizdat veröffentlicht wurde, mit dem in Wien identisch ist?

„Wir sind ein Spiegelarchiv des Prager Archivs. Alle Schriften Patočkas sollten an beiden Orten vorhanden sein. Das Wiener Archiv war vor allem in der Anfangszeit, in den 1980er Jahren und auch noch in den frühen 1990er Jahren sehr wichtig, weil es einfach internationalen Forschern möglich machte, Patočkas Werk zu entdeckten. Nach 1989 konnte sich natürlich auch das Archiv in Prag offizialisieren, es wurde Teil des Centre for Theoretical Studies unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften. Natürlich ist das Prager Archiv heute das maßgebliche, aber das Wiener Archiv hat nach wie vor seine Bedeutung als Spiegelarchiv.

Tschechisches Zentrum Wien | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Die Ausstellung wird vom IWM, dem Archiv Jan Patočka und dem Tschechischen Zentrum Wien organisiert. Sie ist in der Wiener Herrengasse bis 2. Dezember 2022 zu sehen.

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