Unterstützung für Charta 77: Van der Stoels Treffen mit Patočka
Die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 ist aus einer Petition für die Einhaltung der Menschenrechte in der damaligen kommunistischen Tschechoslowakei hervorgegangen. Veröffentlicht wurde die Charta 77 am 1. Januar 1977. Knapp zwei Monate später traf sich der erste westeuropäische Politiker mit einem der Sprecher der Charta. Es war der niederländische Außenminister Max Van der Stoel, der mit dem renommierten tschechischen Philosophen und Dissidenten Jan Patočka redete.
Max Van der Stoels Visite in Prag war der erste Besuch eines westeuropäischen Politikers in der Tschechoslowakei, nachdem das kommunistische Regime eine Kampagne gegen die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 gestartet hatte. Der Historiker Petr Blažek ist stellvertretender Leiter des tschechischen Zentrums für die Dokumentation totalitärer Regime. Er befasst sich mit der Charta 77.
„Die niederländische Delegation kam zu Besuch nach Prag in einer Zeit, in der eine harte Kampagne gegen die Bürgerrechtler lief, weswegen Politiker in mehreren westlichen Ländern beschlossen, nicht nach Prag zu reisen. Die Niederländer hatten für ihren Besuch in Prag jedoch bestimmte Bedingungen gestellt.“
Journalist Verkijk als Vermittler
Eine der Bedingungen war, dass der renommierte Journalist Dirk Verkijk Mitglied der Delegation sein sollte. Verkijk kannte die Situation in der Tschechoslowakei sehr gut. Er war 1970 eine Woche lang in tschechoslowakischer Haft gesessen, weil er Kontakte zu Regimegegnern geknüpft hatte. Im Januar 1977 vereinbarte der Journalist mit Außenminister Van der Stoel, diesen bei seiner Prag-Reise zu begleiten.„Verkijk besuchte in Prag zuerst den Charta 77-Sprecher Jiří Hájek. Er wollte ihn dazu bewegen, mit dem niederländischen Außenminister zu reden. Der Außenminister ließ zwar verlauten, er werde selbst kein Treffen initiieren. Wenn ihn jedoch jemand besuchen werde, würde er dies nicht verhindern, so der Minister damals. Hájek wurde jedoch vom kommunistischen Geheimdienst StB streng überwacht. Verkijk besuchte darum am nächsten Tag den zweiten Sprecher der Charta 77, den Philosoph Jan Patočka. Der niederländische Journalist wurde zwischenzeitlich zwar vom kommunistischen Geheimdienst StB verhört. Da er aber Erfahrungen aus der tschechoslowakischen Haft hatte, blieb er ruhig. Patočka war damit einverstanden, mit Verkijk ins Hotel Intercontinental zu fahren. Dort warteten sie in einem Salon auf den niederländischen Außenminister.“
Charta 77 in ausländischen Medien
Das Treffen dauerte nicht lang. Geredet habe vor allem Patočka, sagt der Historiker. Patočka erläuterte dem niederländischen Politiker die Ziele der Charta 77. Er versicherte ihm, dass es sich um eine legale Bürgerinitiative handle. Zu den Zielen sagte der Sprecher, man wolle die Politiker des Landes dazu bewegen, die Menschenrechte in einer Weise zu garantieren, wie sie dies in der KSZE-Schlussakte von Helsinki versprochen haben. Petr Blažek:
„Nach dem kurzen Treffen gab Patočka den niederländischen Journalisten ein Interview. Erst vor kurzem haben wir aus den Akten des Geheimdienstes StB erfahren, dass Patočka am Abend ins Hotel zurückkehrte. Dort waren noch zwei weitere bekannte Unterzeichner und Mitbegründer der Charta 77, Zdeněk Mlynář und František Kriegel. Sie waren mit ihren Frauen gekommen. Alle beantworteten Fragen von westlichen Journalisten, die von ihren niederländischen Kollegen eingeladen worden waren. Die Reporter kamen aus mehreren Ländern, denn alles hatte sich schnell herumgesprochen. Von daher waren auch die Stasi-Leute dabei, die Patočka bespitzelt haben. Wir haben auch die Protokolle, die die Geheimdienstler geführt haben. Die StB-Leute zwangen schließlich die Regimekritiker, das Hotel zu verlassen.“
Vorkämpfer der Parallel-Diplomatie
Dank den Interviews erschienen viele Artikel in der westlichen Presse, und es wurden mehrere Rundfunk- und Fernsehreportagen über die Situation in der Tschechoslowakei gesendet. Van der Stoels Besuch stellte Petr Blažek zufolge einen Durchbruch dar.„Die offiziellen Stellen in der Tschechoslowakei reagierten auf eine höchst abgeschmackte Weise darauf. Max Van der Stoel sollte ursprünglich auch mit dem damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Staatspräsident Gustáv Husák, zusammentreffen. Nach der Begegnung des Ministers mit Jan Patočka wurde das Treffen jedoch abgesagt. Van der Stoel wurde zu einem Vorkämpfer der sogenannten Parallel-Diplomatie. Diese entwickelte sich nur langsam. Ab Mitte der 1980er Jahre war es jedoch üblich, dass westliche Politiker bei ihrem Besuch in Prag nicht nur Vertreter der Regierung, sondern auch der verbotenen Opposition getroffen haben. Am bekanntesten ist ein Frühstück, zu dem der französische Staatspräsident François Mitterrand am 9. Dezember 1988 tschechische Dissidenten eingeladen hatte.“
Frühstück mit Mitterrand 1988
Die Begegnung des niederländischen Außenministers Van der Stoel mit Jan Patočka im März 1977 sowie die Reportagen, die in den westlichen Medien gesendet wurden, bedeuteten für die Charta 77 sehr viel. Der Historiker.„Patočka selbst sah darin einen Beleg dafür, dass die Bemühungen der Charta 77 akzeptiert wurden. Es wurde als eine starke Unterstützung empfunden.“
Allerdings waren die Kontakte westlicher Politiker zur tschechoslowakischen Dissidentenbewegung immer noch schwierig:
„Die westlichen Diplomaten hatten anfangs Angst, den Beziehungen ihres Landes zur Tschechoslowakei zu schaden, wenn sie mit den Bürgerrechtlern in Kontakt kämen. Mit der Zeit wurde es aber zu einem guten Brauch, dass beispielsweise ein US-amerikanischer Senator zu Besuch in der Tschechoslowakei auch mit einigen Charta 77-Unterzeichnern zusammentraf und eine gemeinsame Erklärung veröffentlichte. Dies gilt aber erst für die zweite Hälfte der 1980er Jahre.“
Die große Änderung kam erst durch das Frühstück von Mitterrand mit den Bürgerrechtlern im Dezember 1988. Der französische Präsident hatte schon vor seiner Reise in die Tschechoslowakei die Bedingung gestellt, auch die Regimekritiker zu sprechen. Das Frühstück mit Mitterrand habe sogar die Form eines offiziellen Empfangs gehabt, meint Historiker Petr Blažek.Das allererste solche Treffen, eben zwischen Max Van der Stoel und Jan Patočka, hatte für Letzteren schicksalsschwere Folgen. Der Bürgerrechtler wurde danach vom kommunistischen Geheimdienst StB über mehrere Tage hinweg stundenlang verhört. Nach einem der Verhöre wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, wo er am 13. März an den Folgen eines Hirnschlags starb.
An den niederländischen Politiker Max Van der Stoel und seine Unterstützung für die Charta 77 erinnert ein neues Denkmal in Prag. Es wurde am 1. März in einem Park feierlich enthüllt, der nun den Namen des Politikers trägt. Das Denkmal ist ein Werk des tschechischen Bildhauers Dominik Lang. Der Park liegt nahe der Patočka-Straße im sechsten Prager Stadtbezirk.