Doreen Warriner und die Rettung von Hitlers Gegnern
Seit vielen Jahren bereits wird der Brite Nicholas Winton geehrt. Er hat vor dem Zweiten Weltkrieg jüdische Kinder aus der von Hitler besetzten Tschechoslowakei gerettet. Über 600 von ihnen ließ er per Zug in seine sichere Heimat fahren. Doch Sir Winton war nicht alleine. So hat schon vor ihm seine Landsfrau Doreen Warriner vergleichbare Rettungsaktionen initiiert. Dabei wurden mehrere Tausend bedrohte Menschen von Prag nach London gebracht. Viele von ihnen waren sudetendeutsche Hitler-Gegner.
„Zunächst müssen wir anerkennen, dass diese Menschen ihre Leben riskiert haben, um anderen zu helfen. Dabei hätten sie jederzeit verhaftet werden können. Sie halfen vielen Hundert tschechischen Kindern dabei, in Großbritannien den Zweiten Weltkrieg zu überleben. Das ist auch heute noch von Bedeutung, obwohl es vor 80 Jahren geschehen ist.“
Kinder wie Ruth Hálová. Sie war damals 13 Jahre alt und kam auch zur Feier ins Hotel Alcron. Die weit über 90-jährige Dame erinnert sich noch heute an die bewegende Abreise vom Prager Masaryk-Bahnhof:
„Der Anblick des kleiner werdenden Bahnsteigs ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Denn da waren so viele Tränen in den Gesichtern. Wir Kinder haben das allerdings gar nicht so tragisch empfunden, da war auch ein gutes Stück Abenteuerlust dabei. Uns war nicht klar, was alles passieren konnte. Wir wussten hingegen, dass wir zurückkehren würden, wenn alles gut ginge. Aber für unsere Eltern muss es grauenhaft gewesen sein.“
Der Zug fuhr dann in die Niederlande, danach ging es dann mit der Fähre nach England. Den Transport hatte Nicholas Winton organisiert. Aber er konnte sich auf ein Netzwerk stützen, das bereits Doreen Warriner aufgebaut hatte.Flüchtlinge aus den Sudetengebieten
Doreen Warriner wird 1904 in Warwickshire in der Mitte Englands geboren. Zwar wächst sie auf einem Bauernhof auf, doch studiert sie später in Oxford und an der London School of Economics. Ihr Neffe Henry Warriner hat sich mit dem Engagement seiner Tante beschäftigt:
„Doreen kam schon in den 1930er Jahren nach Prag, weil sie über die Landwirtschaft in Mitteleuropa forschte. Daher kannte sie sich 1938 bereits mit der Politik und den Menschen hier aus, und sie hatte Freunde in Prag. Nach dem Münchner Abkommen wurde klar, dass es ein größeres Flüchtlingsproblem in der Tschechoslowakei gab. Doreen fand, dass sie hier herkommen und etwas Sinnvolles unternehmen sollte. Denn sie sprach Tschechisch, kannte die Leute und hatte Kontakte zu Hilfsorganisationen, die ihr Gelder geben konnten.“
Das Münchner Abkommen vom 30. September 1938 schlägt die größtenteils deutsch besiedelten Sudetengebiete dem Deutschen Reich zu. Doch nicht nur Tschechen fliehen vor der Wehrmacht, sondern auch sudetendeutsche Gegner Hitlers sowie die jüdische Bevölkerung aus der Gegend. Sie sind in Flüchtlingslagern im Rest der Tschechoslowakei untergebracht. Besonders die letzten beiden Gruppen müssen in den Not-Unterkünften ausharren. Am 13. Oktober reist Doreen Warriner nach Prag.„Als sie hier ankam, dachte sie ursprünglich wohl, dass es genüge, Essen und Kleidung für die Flüchtlinge zu organisieren. Innerhalb eines Monats wurde ihr klar, dass die Menschen raus mussten aus der Tschechoslowakei. Andernfalls würden sie in Konzentrationslagern landen. Deswegen musste sie die britischen Behörden davon überzeugen, Flüchtlinge aufzunehmen. Das war nicht so leicht damals“, so Henry Warriner.
Es ist wohl ein Treffen mit dem sudetendeutschen Politiker Wenzel Jaksch, das ihr die Augen öffnet. Dieser ist der Vorsitzende der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik. Der Publizist William R. Chadwick hat in seinem Buch über die damalige Rettung der Flüchtlinge den Eindruck beschrieben, den Jaksch damals auf Warriner machte. Sein Vater Trevor Chadwick hatte mit der jungen Ökonomin zusammengearbeitet, der Sohn schreibt in seinem Buch:
„Sie traf auf eine traurige Gestalt, deren Leben nach der Besetzung der Heimat komplett aus den Fugen geraten war. Jaksch machte sich keine Illusionen. Er ahnte, dass Deutschland die tschechische Regierung bald dazu zwingen würde, alle Anführer des sudetendeutschen Widerstands gegen die Nazis auszuliefern. Jaksch dachte, dass auch er mit größter Wahrscheinlichkeit ermordet würde.“Das drohende Schicksal der sudetendeutschen Gegner Hitlers bewegt Doreen Warriner zu ihrem weiteren Engagement. Der Historiker Thomas Oellermann hat sich intensiv mit der Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokraten beschäftigt:
„Ich denke, der Großteil derer, die dank der Hilfe von Doreen Warriner nach Großbritannien gelangten, waren sudetendeutsche Sozialdemokraten. Das geht sowohl aus den wissenschaftlichen Arbeiten dazu hervor als auch aus den eigenen Erinnerungen von Warriner.“
Schwierige Verhandlungen mit London
Für die Rettungsaktion entsteht das British Commitee for Refugees from Czechoslovakia (Britisches Komitee für die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei). Vor allem später kümmern sich die Mitarbeiter auch darum kümmern, Juden und besonders jüdische Kinder zu retten. Warriner konzentriert sich jedoch auf die politischen Flüchtlinge.
„Sie bekam von den Sozialdemokraten, eben der größten Gruppe der sudetendeutschen Hitler-Gegner, entsprechende Listen. Mit diesen Listen ist sie dann zu den britischen Behörden gegangen, um die nötigen Visa zu besorgen. Letztlich ging es auch zum Beispiel um Durchreisevisa durch Polen. Insgesamt waren es äußerst schwierige Verhandlungen“, so Oellermann.Und Neffe Henry Warriner ergänzt zu diesem Punkt:
„Es brauchte große Anstrengungen, um die britischen Behörden zu überzeugen. Denn damals lagen praktisch in ganze Europa und Nordamerika die Arbeitslosenzahlen ziemlich hoch. Die Briten wollten keine Menschen hineinlassen, die in ihrem Land arbeiten und somit den Einheimischen die Jobs streitig machen würden. Erst als die Kanadier anboten, Flüchtlinge in ihr Land aufzunehmen, und die britische Regierung Hilfsgelder bereitstellte, fanden diese den Weg nach England.“
Der erste Transport mit sudetendeutschen Flüchtlingen verlässt zwar schon am 22. Oktober Prag. Doch es sind nur die Männer, die meistgesuchten Gegner Hitlers. Frauen und Kinder erhalten keine Visa. Erst mit der Zeit erlaubt London auch die Einreise von Familienangehörigen beziehungsweise ganzen Familien. Anfang März 1939 verdichten sich dann die Anzeichen, dass der befürchtete Einmarsch Hitlers in den Rest des Landes bevorsteht.Olga Sippl kommt aus Stará Role / Altrohlau bei Karlovy Vary / Karlsbad. Sie ist damals 18 Jahre alt und stammt aus einer sozialdemokratischen Familie, arbeitet aber seit Mai 1938 schon in Prag. Nach Büroschluss hilft Olga Sippl in der Auswanderungsstelle der DSAP. Heute ist sie 99 Jahre alt, und 2009 schilderte sie bereits gegenüber Radio Prag ihre Erlebnisse, so auch bei der Besetzung der Tschechoslowakei am 15. März 1939:
„Alle Lager mussten so schnell wie möglich geräumt werden. Die Menschen wurden versteckt, es waren Frauen mit Kindern, die Familienangehörigen der Funktionäre. Dafür verantwortlich waren besonders Engländerinnen. Eine davon war Doreen Warriner. Sie hat in Gasthäusern im Umkreis von Prag eine ganze Menge Frauen mit Kindern versteckt. Und sie hat die Mittel dafür aufgebracht, um diese noch mit dem letzten Transport über Polen hinausschaffen zu können.“
Warriner flieht vor der Gestapo
Aber auch für Doreen Warriner wird es nun eng. Die aufopferungsvolle Helferin rennt am Tag des Einmarschs auf die Bank, räumt hastig das Konto leer und vernichtet in ihrem Büro alle Dokumente. Die Gestapo soll nicht auf die Spur ihrer tschechischen Mitarbeiter kommen. Selbst sucht sie Schutz in der britischen Botschaft unterhalb der Prager Burg. Ab da konzentriert sie sich darauf, jene Kinder noch aus der Tschechoslowakei zu bringen, deren Mütter bereits verhaftet worden sind. Am 24. April 1939 verlässt sie aber Prag. Neben Nicholas Winton verharren noch Trevor Chadwick und die Kanadierin Beatrice Wellington in der tschechischen Hauptstadt, um weitere Flüchtlingshilfe zu organisieren. Bei all den Transporten ab Oktober 1938 werden wohl mehrere Tausend Menschen in Sicherheit gebracht. Längst nicht alle von ihnen bleiben in Großbritannien, viele fliehen weiter zum Beispiel nach Kanada, Schweden, Neuseeland und in kleinem Maße Palästina.Während des Krieges sind Doreen Warriner und Wenzel Jaksch weiter in Kontakt. Der SDAP-Chef hat in einer dramatischen Flucht auch den Weg nach Großbritannien geschafft. Nach dem Krieg schlägt Warriner eine akademische Laufbahn ein. Sie ist dann Professorin für slawische Studien an der London University. Am 17. Dezember 1972 stirbt sie an einem Herzinfarkt, im Alter von 68 Jahren. Neffe Henry Warriner erinnert sich gerne an seine Tante:
„Ich als Teenager – und sie lebte auch noch, als ich heiratete – fand sie entzückend. Als Akademikerin stellte sie wohl sehr hohe Ansprüche, aber als Mensch war sie sehr lieb. Ihre Gesundheit war jedoch lange Jahre nicht die beste, sie rauchte zu viele Zigaretten. Was ihre Taten anbetrifft, wusste ich nichts, bis sie starb. Erst aus einem Nachruf in der Times erfuhr ich davon und auch bei der Trauerfeier. Und vor 20 Jahren bin ich auf die Aufzeichnungen meiner Tante aus ihrer Zeit in Prag gestoßen. Ich habe dann in den Nationalarchiven außerhalb Londons recherchiert. Da bin ich auf enorm viel Material gestoßen über die Arbeit der Retter und des Britischen Komitees für die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei.“In der Tschechoslowakei allerdings wird zu kommunistischen Zeiten kein Wort verloren über die Rettung der teils sudetendeutschen Hitler-Gegner durch britische Freiwillige. Anders jedoch bei den Vertriebenen in Deutschland, wie Thomas Oellermann weiß:
„Vor ihrem Tod ist sie noch geehrt worden. Sie hat den sogenannten Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreis der Seliger-Gemeinde bekommen, also der Nachfolgeorganisation der sudetendeutschen Sozialdemokratie. Damit wurde ihr Wirken gewürdigt. Doreen Warriner war zumindest im Kreis der ehemaligen sudetendeutschen Sozialdemokraten eine wirklich bekannte Person.“
Doreen Warriner blieb wie die anderen britischen Retter Zeit ihres Lebens bescheiden. Von sich aus hat sie wohl nie mit ihren Taten geprahlt.