Ein neuer Blick auf das Hässliche

Foto: Archiv der Gruppe „Architektura 489“
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Roh, kalt und eigenartig schön: Zwei junge Projekte zeigen den besonderen Reiz brutalistischer Architektur.

Foto: Archiv der Gruppe „Architektura 489“
„Wir sind ja auch aus den 80ern, dem Sozialismus also. Uns will ja hoffentlich auch keiner einfach so abreißen.“

So lautet der Appel von Pavlina Krásná an ihre Leser. Krásná ist Anfang 30 und hat mit Freunden von der Gruppe „Architektura 489“ einen kleinen Stadtplan von Prag herausgegeben. Mit ihm kann sich jeder auf die Spuren brutalistischer Bauten in der tschechischen Hauptstadt begeben. Aufgebaut ist die Broschüre „Brutalní Praha“ als eine Art Reisführer mit Beschreibungen der wichtigsten Baudenkmäler aus den Jahren 1948 bis 1989, die heute noch in Prag zu finden sind.

Geboren wurde die Idee in der Unterwelt der Metro-Station Můstek. Denn der heutige Zustand eines der exponiertesten Aushängeschilder der 1970er Jahre ist desolat:

Pavlína Krásná  (Foto: Archiv von Pavlína Krásná)
„Das ganze Bild der Metro-Station ist zerstört durch die Läden und Imbissstände, die heute hier sind. Die Pracht der Eingangshalle zur Station ist verflogen, da alles mit Geschäftsräumen vollgestopft wurde.“

Die Architekturbegeisterten wollten deshalb wissen, wie es hier vorher ausgesehen hat und worin der Reiz dieses architektonischen Meisterwerks gelegen hat. Heute seien Bauten wie diese mehr oder weniger selbstverständlich, meint dazu Pavlina Krásná. Damals sei es aber ein kleines Wunder gewesen, eine ganze Fußgängerzone in den Untergrund zu verlegen und sie mit einem wichtigen Infrastrukturprojekt zu verbinden. Und die Zugänge zur Prager Metro haben den Architekturbegeisterten von „Architektura 489“ Lust auf mehr gemacht:

„Ausgehend von der Metro-Station Můstek haben wir begonnen, den Zustand von Bauwerken aus der Zeit von 1948 bis 1989 zu erfassen. Gerade die Unterführungen am Můstek kamen uns so schmutzig und vernachlässigt vor, dass wir sie ein bisschen für sie Werbung machen wollten bei den Pragern.“

Vom Auhängeschild zum Schandfleck

Metro-Station Můstek  (Foto: Miaow Miaow,  CC BY-SA 3.0)
Zuerst geschah dies in den sozialen Medien. Sie erstellten eine Art Katalog mit Bildern brutalistischer und vorbrutalistischer Bauten, manchmal sogar mit den Orignalskizzen der Architekten. Nun ist aus dieser Sammelarbeit der kleine Band „Brutalní Praha“ entstanden, eine mobile App soll bald folgen. Dass der Stadtführer „brutalni“, also brutal und nicht „brutalisticky“, also brutalistisch heißt, ist dabei kein Zufall.

„Das war eigentlich als Scherz gedacht, da viele Leute brutalistisch und brutal verwechseln und da keinen Unterschied sehen. Aber der Name hat noch einen tieferen Sinn. Wir beschäftigen uns mit der gesamten Epoche zwischen 1948 und 1989, und da sind nicht alle Gebäude rein brutalistisch. Den Begriff sozialistisch wollten wir auf der anderen Seite nach Möglichkeit vermeiden. Deshalb haben wir uns auf ‚brutal‘ geeinigt. Das beste Beispiel dafür ist wiederum die Metro-Station Můstek. Sie ist in ihrer heutigen Form so ekelhaft, dass sie einfach nicht anders sein kann als eben brutal.“

Transgas-Gebäude | Foto: Dominika Bernáthová,  Radio Prague International
Die Gruppe „Architektura 489“ hat auch mit ihrem neuen Stadtführer das Ziel, den Menschen die brutalistische Architektur schmackhafter zu machen. Die ist bei vielen Tschechen in Verruf, und das nicht nur wegen ihrer provokanten Eigenart:

„Die Öffentlichkeit ist über den Brutalismus oft nicht ausreichend informiert, kaum einer kennt den eigentlichen Kontext der Bauten. Oft hängt ihnen das Etikett ‚sozialistisch‘ um, das sie für viele unsympathisch macht. Die Gebäude waren aber meist nicht im eigentlichen Sinn sozialistisch, da zahlreiche Architekten vor allem nach 1968 nicht mehr viel mit dem System anfangen konnten. Das Ehepaar Machonín ist so ein Fall, aber auch die Schöpfer des Transgas-Gebäudes. Wir wollen die Bauten von ihrem schlechten Ruf befreien.“

Ein Hauch von Westen

Laut Pavlina Krásná hatte der Stil des Brutalismus seine Wurzeln im England der 1950er Jahre und wehte einen künstlerischen Hauch des Westens in die Tschechoslowakei.

Pavel Hrubý  (Foto: Strahinja Bućan)
Glücklicherweise ändert sich aber mittlerweile die Haltung der Prager zum brutalistischen Gesicht ihrer Stadt, wie Pavlina Krásná feststellt. In den vergangenen zehn Jahren sei der beton- und stallastige Architekturstil immer mehr in den Fokus geraten, und zwar eher positiv. Auch Pavlina Krásná gibt zu, dass es bei ihr keine Liebe auf den ersten Blick war mit der brutalistischen Architektur. Sie habe erst spät einen Zugang zu diesem eigenwilligen Stil gefunden.

Die Macher von „Brutalní Praha“ wollen ihren Lesern etwas ganz Bestimmtes mitgeben, bevor sich diese auf Erkundungstour durch die Stadt machen. Pavel Hrubý ist Mitbegründer von „Architektura 489“ und ebenfalls Autor des Stadtplans:

„Man sollte nicht abwertend auf brutalistische Gebäude schauen und den Pathos ihrer Entstehungszeit beiseitelassen. Beim Betrachten der Gebäude muss man sich Eines bewusst machen: Es handelt sich um qualitativ unglaublich hochwertige Architektur, mit der die heutige einfach nicht mithalten kann.“

Brutalismus als visuelles Erlebnis

Haruna Honcoop  (Foto: Roland Szabo)
Die japanisch-tschechische Filmemacherin Haruna Honcoop hat einen etwas anderen Zugang zur brutalistischen Architektur gefunden und auch über den tschechischen Tellerrand hinweggeschaut. In diesem Monat hat sie auf dem internationalen Festival „Film und Architektur“ in Prag ihren Streifen „Built to last“ vorgestellt. Die Regisseurin hat dabei über vier Jahre lang Material in elf ehemals sozialistischen Ländern gesammelt. Begonnen hat dabei alles mit großem Staunen:

„Die Genese des Films war sehr interessant. Die Idee kam mir vor vier Jahren, als ich gerade auf einem Filmfestival in Bukarest war. Ich bin mit meiner Kamera durch die Straßen gelaufen und stand auf einmal vor dem Parlamentspalast. Der Bau des damaligen Machthaber Nicolae Ceaușescu ist ja meines Wissens nach dem Pentagon das größte Gebäude der Welt. Mir hat dieser Koloss den Atem geraubt, und ich bin dann tiefer in die Materie eingestiegen. Mich hat fasziniert, dass dieser irre Diktator sich den Bau des Palastes zur Lebensaufgabe gemacht hatte – und das auch noch gegen Ende der kommunistischen Ära.“

Haruna Honcoop hat schließlich von Deutschland bis Bulgarien Aufnahmen gemacht. Entstanden sei dabei viel mehr als nur eine Dokumentation, so die Filmemacherin. Bewusst habe sie viel mit ortsansässigen Musikern und Künstlern gearbeitet, und sie musste sich durch viel Staub kämpfen:

Buzludzha in Bulgarien  (Foto: Haruna Honcoop)
„Der Film ist ein visuelles Experiment. Die Musik ist darin genauso wichtig wie das Bild. Dabei wollte ich stark von der damaligen Zeit ausgehen, wobei ich meine eigenen Aufnahmen mit Archivmaterial mische. Gleichzeitig wollte ich die heutigen Geräusche der Städte, die ich selbst gesammelt habe, mit Reden der damaligen kommunistischen Führer oder Kulturminister verbinden.“

Erhalt einzigartiger Orte

So zum Beispiel mit Ceaușescu, János Kádár oder aber auch Josip Broz Tito. Haruna Honcoop interessierte sich vor allem für die Genese der Architektur der Nachkriegszeit in den sozialistischen Ländern. Besonders dabei dem Vergleich zwischen organisch gewachsenen Städten wie Prag oder Budapest und „künstlichen“ Städten wie Warschau, die nach dem Zweiten Weltkrieg fast komplett wieder aufgebaut werden mussten.

Transgas-Gebäude  (Foto: Haruna Honcoop)
Haruna Honcoop will mit ihrem Film einen Aufruf in die Welt schicken, diese Architektur aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und sie nicht um jeden Preis zu zerstören:

„Natürlich ist es sehr schwierig und kostenintensiv. Ich bin aber dennoch der Meinung, dass die Bauwerke aus dieser Zeit auch heute noch eine zweite Chance verdient haben und dass man für sie noch irgendeinen Verwendungszweck finden sollte. Es würde sich auf jeden Fall lohnen, da dies einzigartige Orte sind. Wenn man sie versuchen würde, so zu ersetzen, wie es derzeit vielerorts geplant ist, würden nur eintönige und gesichtslose Bürogebäude entstehen. Und davon haben wir beispielsweise in Prag wirklich genug.“