"Einmalig in der Vertriebenengeschichte" - aus Gablonz wurde Neugablonz

Gablonz a. N.
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Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen Vertreibung der Sudetendeutschen aus den böhmischen Ländern schossen vor allem in Bayern die so genannten Vertriebenenstädte wie Pilze aus dem Boden. Eine dieser Neuansiedlungen im Voralpenland hat eine ganz besondere Geschichte, die Ihnen nun Sebastian Kraft vorstellen wird.

Gablonz a. N.
Jablonec nad Nisou / Gablonz an der Neiße gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den blühenden Städten Nordböhmens. Die damals zu mehr als 90% von Sudetendeutschen bewohnte Stadt im malerischen Isergebirge war durch ihre Schmuck- und Glasindustrie weltbekannt. Diese so genannte "Gablonzer Bijouterie" galt auch als der Hauptmotor des wirtschaftlichen Aufschwungs, den Gablonz zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte. Dabei war es für die deutschsprachige Bevölkerung nie ein politisches Problem, dass die Stadt nahe des deutsch-tschechisch-polnischen Dreiländerecks bis 1918 zu Österreich-Ungarn und dann bis 1938 zur Ersten Tschechoslowakischen Republik gehörte. Den großen Knackpunkt für die böhmischen Länder deutscher Sprache und damit auch für Gablonz an der Neiße stellte das Jahr 1938 dar, in dem auf der Münchner Konferenz die sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich angegliedert wurden, was für Hitler förmlich der Startschuss zur "Zerschlagung der Resttschechoslowakei" war. Nach dem Kriegsende 1945 waren die viel diskutierten "Benes-Dekrete" für die tschechische Seite eine Legitimation zur Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung aus Böhmen. Betroffen davon war nahezu auch die ganze Bevölkerung von Gablonz an der Neiße. Soweit die Chronologie der Ereignisse, die auch den meisten von Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein dürfte. Die eigentliche Besonderheit ereignete sich erst nach der Vertreibung: Während sich in allen anderen Städten die Flüchtlinge in allen Windrichtungen des zerstörten Deutschlands verstreuten, kamen viele Leute aus Gablonz wieder zusammen. Es sprach sich unter den Vertriebenen wie ein Lauffeuer herum, dass in der Nähe von Kaufbeuren auf Betreiben der bayerischen Staatsregierung die berühmte Glas- und Schmuckindustrie in einer Vertriebenensiedlung eine neue Heimat finden sollte, die später den Namen Neugablonz bekam. Elisabeth Vietze, 85 Jahre und folglich im Alter von 25 Jahren aus Gablonz vertrieben, wohnt heute in Neugablonz und ist Zeitzeugin dieser Ereignisse:

Rüdigerbrunnen
"Das besondere ist hier in Neugablonz, dass sich der größte Teil der Bevölkerung von Alt-Gablonz und Umgebung zusammengefunden hat, es sind auch andere Flüchtlinge zu uns gestoßen, z.B. viele Schlesier. Somit sind wir in Deutschland die größte Flüchtlingssiedlung."

Der heutige tschechische (Alt-) Gablonzer Dekan Antonin Bratrsovsky, der sich ebenso wie Elisabeth Vietze seit Jahren für eine Aussöhnung zwischen Deutschen und Tschechen einsetzt und einen regen Kontakt mit Neugablonz pflegt, fügt hinzu:

"Ich denke, es gibt dort noch lebendige Wurzeln der Vertreibung, denn die Entstehung von Neugablonz ist etwas Einzigartiges in der Vertriebenengeschichte. Die Sudetendeutschen, die Gablonz nach dem zweiten Weltkrieg verlassen mussten, konnten in Deutschland eine neue Existenz in Anlehnung an ihre alte Heimat aufbauen."

Viele heimatlos gewordene Gablonzer strömten also zum Ende der vierziger und im Laufe der fünfziger Jahre ins Voralpenland, wo in der Nähe von Kaufbeuren eine neue Stadt im Entstehen war. Die armseligen Baracken einer ehemaligen Munitionsfabrik, in denen die Vertriebenen zuerst hausten, zogen anfangs nur wenige an, doch da die Schmuck- und Glasindustrie erneut für einen rasanten Wirtschaftsaufschwung sorgte, wuchs die Vertriebenensiedlung in den fünfziger Jahren beständig an. Auch Elisabeth Vitze siedelte sich mit ihrem Mann schließlich in Neugablonz an. An die ersten Erlebnisse in der neuen Heimat erinnert sie sich noch sehr gut:

"Als ich 1958 von Württemberg nach Gablonz zog, weil wir dort ein Haus gebaut hatten, da war es das schönste, dass man auf der Straße oder im Laden überall hörte: Bist du nicht die, ach ja, richtig. Grüß Gott. Willkommen. Man hat sehr viele bekannte Gesichter getroffen und fühlte sich sofort wie zu Hause. Die Menschen bilden sich ja schnell wieder eine Heimat, wenn sonst nichts übrig geblieben ist."

Das Wirtschaftswunder konnte bei vielen Vertriebenen zwar die Wunden über den Verlust der alten Heimat nicht heilen, doch der schnell erlangte Reichtum dank der florierenden Glasindustrie war für viele wenigstens ein kleiner Trost. Einen letzten Kampf hatten die Neugablonzer allerdings noch auszufechten - die Umbenennung ihres Stadtteils, der ursprünglich Kaufbeuren-Hart hieß. Elisabeth Vietze beschreibt diese Entwicklung aus ihren Erinnerungen:

Vertriebenendenkmal
"Ein langer Weg bis Neugablonz, das heißt auch ein langer Weg bis zur Bezeichnung des Namens Neugablonz. Aus Prag wurde interveniert, dass man den Stadtteil Neugablonz nennen sollte. Insgesamt hat diese Umbenennung sechs zermürbende Jahre gedauert. Damals war Georg Volkardt Bürgermeister von Kaufbeuren und stellte Anfang 1947 den Antrag, unseren Stadtteil Kaufbeuren-Hart zu nennen. Damit waren die Gablonzer natürlich nicht zufrieden. Im August 1949 hat der Siedlerausschuss aus Kaufbeuren den Stadtrat erneut um eine Umbenennung gebeten. Aufgrund dieses neuerlichen Antrags kam es dann am 20. Mai 1952 zu einer denkwürdigen Stadtratssitzung, in welcher die Versammelten geschlossen für die Umbenennung von Kaufbeuren-Hart in Kaufbeuren-Neugablonz stimmten. Im Namen alteingesessener Stadtratsmitglieder wurde eine Erklärung verlesen, dass die Umbenennung nur aus wirtschaftlichen Gründen erfolge und keine anderen Absichten damit verbunden sein. Am 8. August 1952 signalisierte schließlich auch das bayerische Innenministerium grünes Licht für den neuen Namen."

Doch nicht nur der Name erinnert heute an die alte Heimat im Isergebirge. Die Herz-Jesu Kirche in Neugablonz wurde analog zu der Herz-Jesu Kirche im heute tschechischen Gablonz gebaut, dazu kaufte die Stadt Kaufbeuren dem tschechoslowakischen Staat einige Denkmäler ab, wie z.B. den Rüdiger-Brunnen, und stellte sie in Neugablonz wieder auf. Vertriebenenmahnmäler und ein Isergebirgsmuseum ergänzen das Stadtbild, in dem auch dem Briefträger tagtäglich die besondere Geschichte der ehemaligen Vertriebensiedlung vor Augen geführt wird: Die Straßen wurden nämlich nach den Stadtteilen von Alt-Gablonz und den umliegenden Bergdörfern benannt. Für Elisabeth Vietze schließt sich hier der Kreis:

"Natürlich wollte man möglichst viel mit herüberbringen, das an die alte Heimat erinnert. Da liegt es auf der Hand, dass die Vertriebenen die Straßennamen so gewählt haben."

Was vielleicht auf den ersten Blick wie ein kleines Happy-End einer leidvollen Geschichte klingt, trügt jedoch. Der Alt-Gablonzer Dekan Antonin Bratrsovsky stößt bei seiner Versöhnungsarbeit zwar überwiegend auf ein positives Echo, wenn er für Vertriebene, die der alten Heimat einen Besuch abstatten, die Tore seiner Pfarrei und der Herz-Jesu Kirche öffnet. In der Entstehung von Neugablonz sieht er aber trotz aller positiven Seiten auch einen gravierenden Nachteil:

"Die Tatsache, dass so viele Vertriebene aus einer Stadt wieder zusammengefunden haben, hat auch eine Kehrseite der Medaille: Natürlich half Ihnen diese Gemeinschaft beim Aufbau einer neuen Existenz in Bayern, aber die Verbitterung über die Vertreibung und die damit verbundene Ablehnung einer Versöhnung mit uns Tschechen ist nach meinen Erfahrungen dort viel mehr ausgeprägt als irgendwo anders in Deutschland, wo Vertriebene verstreut leben."

Dieselbe Meinung vertritt auch die Neugablonzerin Elisabeth Vietze, die sich mit ihrem 13-jährigen Engagement im Stadtrat von Kaufbeuren für eine gute Partnerschaft zwischen den beiden Städten nicht nur Freunde gemacht hat:

"Es gibt ja sehr viele Neugablonzer, die auch heute noch auf die Tschechen schimpfen - für mich sind das unreife Menschen. Ich denke, man muss sich im Leben immer mit dem Gegebenen abfinden. Erst dann lebt man besser. Ich bin mindestens jedes zweite Jahr, in letzter Zeit sogar jährlich, nach Alt-Gablonz gefahren. Schon seit über zehn Jahren besuche ich die Tschechischkurse der Ackermanngemeinde, damit ich mich besser in der alten Heimat verständigen kann."

Die heute 85-jährige ist überzeugt davon, dass die bestehende Partnerschaft zwischen Neugablonz und dem tschechischen Gablonz in eine rosige Zukunft blickt:

"Ich denke, dass das ein Generationenproblem ist. Das wird sich ganz von alleine lösen, wenn die älteren Bewohner von Neugablonz gestorben sind. Denn viele von Ihnen können einfach nicht vergeben. Es gibt sehr wenige hier, die so denken wie ich. Ich habe in dieser Sache ganz andere Ansichten, ich wünsche mir, dass wir mit der jungen Bevölkerung in Alt-Gablonz einen guten Kontakt aufbauen."

Neugablonz hat etwa 18 000 Einwohner und trägt heute übrigens immer noch das Image als Anlaufpunkt für Heimatlose, wenn auch mit einem ganz anderen Hintergrund: In den letzten Jahren hat sich der Stadtteil von Kaufbeuren zu einem - nicht immer konfliktfreien - Zentrum für russische Spätaussiedler entwickelt. Die berühmte "Gablonzer Bijouterie" fiel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings weitgehend der Billigkonkurrenz aus Asien zum Opfer.