„Es war mir wichtig, den Flügel zu verwandeln.“ Pianist Alfred Brendel
Der österreichische Pianist Alfred Brendel, einer der bedeutendsten Musiker des 20. Jahrhunderts, kam im Jahr 1931 in Loučná nad Desnou / Wiesenberg in Nordmähren auf die Welt. Noch in den 1930er Jahren zog seine Familie nach Zagreb in Kroatien, wo Brendels Vater ein Kino leitete. Später ging es nach Graz, wo der junge Klavierspieler im Alter von 17 Jahren sein erstes Konzert gab. Heute lebt Alfred Brendel in London und ist vor allem für seine Interpretationen der Klavierwerke von Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Liszt bekannt. Er ist aber auch Dichter, Essayist und Filmkenner, im Jahr 2008 verabschiedete er sich von den Konzertbühnen. In der vergangenen Woche hat er Prag besucht, um hier unter dem Titel „Zwischen Grauen und Gelächter“ eine Auswahl aus 18 Filmen zu präsentieren und persönlich einzuleiten. Radio Prag hat ihn vor das Mikrophon gebeten.
„Wie soll ich das erklären? Es ist durchaus ein Bestandteil meines ästhetischen Lebens. Ich habe einen großen ästhetischen Hunger. Das geht über Musik und Literatur, die mein größter Lebensinhalt sind, hinaus. Das Theater und der Film waren für mich immer wichtige und lebendige Dinge. Ich stand als Kind in Zagreb auf der Bühne in einem Kindertheater und sang altösterreichische Couplets mit kroatischem Text, den ich noch nicht verstand. Ich habe also schon eine Art geradezu körperlicher Beziehung zum Schauspiel und zu dem, was in Filmen passiert. Das hängt auch mit meinem Beruf als Musiker zusammen. Dinge müssen aufgeführt werden, Leute, die auf der Bühne stehen oder in einem Film spielen, verkörpern die Charaktere. Und für mich sind Musikstücke auch Charaktere, die bestimmte Möglichkeiten und bestimmte Grenzen haben. Und wenn man diese Grenzen nicht wahrnimmt, missversteht oder verfehlt man das Stück. Innerhalb der Grenzen gibt es eine gewisse Freiheit.“
Wie haben Sie die Filme ausgewählt, die in Prag im Rahmen der Filmreihe gezeigt werden?„Unter der Devise ‚Zwischen Grauen und Gelächter‘. Und zwar habe ich hauptsächlich Filme gewählt, die nicht die allerberühmtesten paradigmatischen Filme sind. Es ist eine Ausnahme, dass hier auch Chaplin gezeigt wird, den ich ungeheuer bewundere. Die Filme von ihm sind relativ bekannt, die anderen sind vielen Leuten vielleicht nicht so geläufig. Es sind zum Beispiel zwei englische Filme, die man auf dem europäischen Festland kaum wahrgenommen hat.“
Sie sind vor allem ein Musiker. Inwieweit hat die Filmmusik bei der Auswahl eine Rolle gespielt. Ich habe gelesen, dass Sie kein Filmmusikfan sind…
„Das stimmt allgemein gesagt. Aber es gibt natürlich Ausnahmen. Es gibt einige Filme, die musikalisch sehr interessant sind. Die erstaunlichste Ausnahme ist Chaplin, mit 'City Lights': Er hat diesen Film nicht nur konzipiert, ihn als Regisseur geleitet, darin als Hauptdarsteller gespielt, sondern auch noch die Musik gemacht oder zumindest skizziert. Wahrscheinlich hat jemand anderer dann das Ganze für das Orchester eingerichtet. Aber es ist jedenfalls eine Musik, die so genau zum Film passt, wie man es sich nur wünschen kann. Der Grund ist, dass Chaplin alles war. Er wird auch mit Recht als Filmgenie anerkannt.“Prag ist die zweite Station dieser Filmveranstaltung?
„Ja, und die dritte wird im Juni Berlin sein. Ich freue mich ganz besonders, dass es hier stattfindet. Ich liebe diese Stadt, und ich habe hier wunderbare Menschen gefunden. Ich bin entzückt, eine Woche hier zu verbringen.“Wie ist eigentlich Ihre Beziehung zu Prag. Sie haben hier auch schon Konzerte gegeben und Masterklassen geleitet…
„Ich habe ein paar Konzerte gegeben. Ich habe Prag noch unter dem Kommunismus besucht und die Stadt sah natürlich anders aus. Damals waren noch die originalen Türschlösser an den Türen. Aber es war sehr schön, gerade in den letzten Jahren wieder hierher zu kommen, mit wunderbarem Wetter im letzten Sommer. Manchmal muss man am Wochenende die Augen schließen, wenn zu viele Touristen herumrennen. Vor allem die jungen Leute, die sich heutzutage gerne möglichst laut benehmen. Aber das ist die moderne Welt. Ich kann mich zwar nicht mit ihr abfinden, aber ich versuche weiterzuleben.“
Sie haben hierzulande nicht nur Konzerte gegeben, sondern auch Masterklassen geleitet. Kann man einem jungen Klavierspieler raten, wie er spielen soll, wie er ein guter Pianist wird?„Wie man spielen soll? Das kommt zunächst sehr darauf an, wie der Betreffende oder die Betreffende bereits spielt, und dann kann man einhaken. Ein Rat, den ich allen jungen Pianisten gebe, ist, Komposition zu studieren und eine Zeit lang zu komponieren. Auch wenn sie nicht Komponisten bleiben, ist es eine ganz wichtige Erfahrung, auch für den Interpreten, zu wissen, wie man ein Stück vom ersten bis zum letzten Ton führt. Es ist auch wichtig zu wissen, wie man ein Stück niederschreibt und was diese Niederschrift bedeutet. Dadurch erhält man dann eine andere Perspektive, wenn man sich an die großen älteren Komponisten hält.“
Ist es also wichtig, intellektuell an das Werk heranzugehen und sich nicht nur auf die Intuition zu verlassen?„Beides ist wichtig, eine Kombination aus beidem. Ich würde sagen, es beginnt mit dem Gefühl und endet mit dem Gefühl. Der Verstand aber, der Intellekt, ist dazu da, das Gefühl zu filtern, er ermöglicht das Kunstwerk erst. Also der Intellekt verwandelt das Chaos in Ordnung. Es sollte aber immer etwas Chaos durch die Ordnung schimmern, wie Novalis gesagt hat.“
Wie unterscheidet sich das Klavierspiel vom Spielen auf anderen Instrumenten?„Da ich nie andere Instrumente gespielt habe, kann ich Ihnen das nicht physisch vortragen. Aber ich habe als Klavierspieler immer im Sinne von anderen Instrumenten und im Sinne des Orchesters gedacht. Nicht als rein pianistisch denkender Mensch. Wenn ich spielte, hörte ich die Streicher, die Oboe, hörte ich ein vollständiges Orchester. Für mich war es wichtig, den Flügel zu verwandeln. Eine Geige hat ihr Timbre, eine Oboe hat ihr Timbre, und das Klavier allein ist nicht genug, es muss verwandelt werden und es kann verwandelt werden. Es kann verschiedene instrumentale Timbres suggerieren, es kann sogar den Regenbogen und die Sphären suggerieren.“
Sie sind ein Renaissance-Mensch. Sie widmen sich nicht nur der Musik, sondern Sie schreiben auch, und zwar sowohl Bücher über Musik als auch Gedichte. Wie lässt sich das alles verbinden?„Verbinden kann man es sehr gut, nur resultiert das eine notwendigerweise nicht aus dem anderen. Meine Gedichte sind eine andere Sphäre als meine musikalische Tätigkeit. Man sollte das nicht verwechseln. Manchen Leuten fällt es schwer sich vorzustellen, dass ein Mensch nicht eine Schublade hat, sondern verschiedene Schubladen.“
Sie wurden in der damaligen Tschechoslowakei, in Mähren geboren. Verbindet Sie noch etwas mit Ihrem Heimatsort? Erinnern Sie sich an Ihre frühen Kindheitsjahre in Mähren?
„Ich habe eine sehr dunkle Erinnerung. Ich war ja erst drei Jahre alt, als wir dort wegzogen. Mit der Tschechoslowakei oder was jetzt daraus geworden ist, verbindet mich viel Literarisches. Also es ist nicht nur Kafka in Prag, sondern auch Hašek. Und es ist natürlich die Musik – Smetana, Dvořák, Janáček. Aber es ist auch das Aussehen der Leute: Ich finde, dass hier zum Beispiel die jungen Frauen eine Art von Frische in ihren Augen haben, die ich sonst nicht kenne.“