EU-Kommissionsvertreter in Prag: Verfassung ist zurzeit der bestmögliche Kompromiss
In den letzten Tagen haben wir viel über die Reaktionen tschechischer Politiker auf den Ausgang der Referenden über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden berichtet. Heute wollen wir uns noch einmal diesem Thema widmen, diesmal aber aus der Perspektive der Europäischen Kommission. Dennoch bleiben wir natürlich in Tschechien. Mit dem Leiter der Kommissionsvertretung in Prag, Christian Bourgin, hat Gerald Schubert gesprochen:
Für Christian Bourgin besteht kein Zweifel: Die Gründe, warum zum Beispiel die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs den Verfassungsvertrag abgelehnt haben, unterscheiden sich in vielen Punkten von den verfassungskritischen Tönen, die man in Tschechien hören kann. Der Furcht vor dem Verlust sozialer Sicherheiten, wie man sie in alten EU-Staaten beobachten kann, stehen in den neuen EU-Mitgliedsländern etwa Ängste vor fremder Bevormundung gegenüber.
"Die Leute haben, auch aufgrund der Vergangenheit, eine gewisse Angst vor dem Einfluss anderer Ländern in Tschechien", sagt Bourgin mit Hinweis auf die erst vor relativ kurzer Zeit abgeschüttelte Fremdbestimmung, die auch das Alltagsleben im kommunistischen Machtblock bestimmt hat.
In Brüssel gefasste, demokratische Beschlüsse mit Anweisungen aus Moskau zu vergleichen, ist zwar irrational - doch Missverständnisse gab es in der EU-Verfassungsdebatte auch in ganz anderen Bereichen. Etwa dort, wo die bereits vollzogene Erweiterung oder längst absolvierte Schritte der europäischen Integration mit der Verfassung in Zusammenhang gebracht wurden:
"Zum Beispiel: EU-Entscheidungen, die von den Mitgliedsstaaten getroffen werden, müssen in allen Ländern umgesetzt werden. Das heißt, sie haben mehr Kraft als die Gesetze der einzelnen Länder. Das ist ganz normal. Wir können nicht zusammenarbeiten, wenn wir das nicht anerkennen. Aber das ist bereits jetzt so!"
Wie es nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden weitergeht, das weiß zurzeit noch niemand. Christian Bourgin meint, dass wohl erst der Brüsseler EU-Gipfel Mitte Juni eine ungefähre Richtung aufzeigen wird, in die die Union nun gehen könnte. Ein endgültiges Aus für die Verfassung ist derzeit jedenfalls noch nicht besiegelt. Für die Verfassung spricht laut Bourgin schon alleine die Geschichte ihrer Entstehung:
"Wenn ich mir den ganzen Prozess ansehe: Er war wirklich demokratischer als irgendein anderer zuvor: Es gab einen Konvent, in dem nicht nur Vertreter der Regierungen saßen, sondern auch Vertreter der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Kommission. Auch Vertreter der neuen Mitgliedsländer waren dabei, obwohl diese damals noch gar keine Mitglieder waren. Alle diese Leute haben 16 Monate lang miteinander diskutiert. Auch nach außen wurde viel kommuniziert. Es gab ein Forum, wo Vertreter der Bürgergesellschaft ihre Meinung äußern konnten. Es war eine sehr lebendige Debatte. Am Ende wurde von den Regierungsvertretern ein Text verabschiedet, der sehr nahe am Vorschlag des Konvents war. Und ich glaube, dieser Text ist - wenigstens zurzeit - der beste Kompromiss, den man erzielen konnte."
Ein längeres Gespräch mit Christian Bourgin, dem Leiter der Vertretung der Europäisch Kommission in Prag, können Sie am Montag hören, in unserer Sendereihe "Heute am Mikrophon".