Europäer aus Trägheit: Tschechien und die Mitgliedschaft in der EU

Tschechien und die EU

In diesem Jahr feiert Tschechien 20 Jahre seit dem Beitritt zur Europäischen Union. Dennoch sind die Tschechinnen und Tschechen zurückhaltend hinsichtlich der EU-Politik. Nur 28 Prozent von ihnen interessieren sich laut einer Studie von Eurobarometer für die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Damit ist Tschechien Schlusslicht unter den Mitgliedsstaaten. Warum identifizieren sich die Menschen hierzulande nicht mit der Europäischen Union?

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Nach der Samtenen Revolution hatte die tschechische Gesellschaft zwei Hauptziele, um die kommunistische Ära hinter sich zu lassen. Martin Buchtík ist der Sozialwissenschaftler und leitet das Meinungsforschungsinstitut Stem:

„‚Freie Wahlen‘ und ‚Zurück nach Europa‘ – das waren die beiden Parolen, die sich durch das Jahr 1990 zogen. Die freien Wahlen wurden hierzulande schon zu Beginn der 1990er Jahre eingeführt. Nebenbei sei erwähnt, dass die Wahlen bis heute eines der wenigen Dinge sind, deren Legitimität die tschechische Gesellschaft überhaupt nicht anzweifelt. 2004 sind wir dann zurück nach Europa gekommen.“

Martin Buchtík | Foto: Michaela Danelová,  Tschechischer Rundfunk

Im Mai 2004 wurde Tschechien gemeinsam mit neun weiteren Ländern Mitglied der Europäischen Union. Wie aber der Politikwissenschaftler Jiří Pehe betont, hatte die EU bereits vor 2004, während des Beitrittsprozesses, einen großen Einfluss auf die Modernisierung des tschechischen Staates. Tschechien musste nämlich die Beitrittskriterien erfüllen. Dies betraf vor allem den Stand der Demokratie im Land, die Marktwirtschaft, die Rechtsstaatlichkeit und die staatliche Verwaltung. In all diesen Aspekten habe Tschechien viel nachzuholen gehabt, betont Jiří Pehe, der die New York University in Prag leitet:

„In politischer Hinsicht wurde Tschechien für seine Haltung zu Minderheiten kritisiert. Brüssel übte Druck aus, damit vor allem die Stellung der Roma besser wurde. Im Bereich Wirtschaft ging es um die Annahme eines Gesetzes zu Bankrotten, um die Schaffung eines Kapitalmarktes und generell um ein transparentes Handelsumfeld. Im Hinblick auf die Rechtstaatlichkeit sollte die Reform der Justiz abgeschlossen werden, mit der schon zu Beginn der 1990er Jahre begonnen wurde. Erwartet wurde auch eine Dezentralisierung der Macht. Die Forderungen im Bereich staatliche Verwaltung bezogen sich vor allem auf ein Gesetz zum öffentlichen Dienst, das mit den europäischen Standards in Einklang stehen sollte.“

Die europäischen Institutionen sahen in allen Bereichen einen hinreichenden Fortschritt, und die Tschechische Republik kam einer EU-Mitgliedschaft damit immer näher. Die Beitrittsabsichten mussten aber noch durch ein Referendum bekräftigt werden.

Jiří Pehe | Foto: Luboš Vedral,  Tschechischer Rundfunk

„Gegen Ende des Jahres 2002 hatte Tschechien den Beitrittsprozess abgeschlossen, im Juni 2003 fand dann das Referendum statt. Und in dieser Zeit tauchten in der Politik hierzulande auch die ersten ernstzunehmenden eurokritischen Stimmen auf. Vor allem sind dabei Václav Klaus und sein Umfeld zu nennen. Er war zunächst Premier und ab 2003 tschechischer Staatspräsident. Klaus traute sich zwar noch nicht, gegen einen EU-Beitritt zu argumentieren, und er forderte die Menschen auch nicht dazu auf, im Referendum dagegen zu stimmen. Später gestand er aber ein, dass er nicht für den Beitritt gestimmt hatte. In diesem Moment begann sich ein negativer und zugleich utilitaristischer Blick auf die Mitgliedschaft zu entwickeln. Später hat sich dieser Ansatz in Tschechien leider stark durchgesetzt, und dies geht gerade auf Václav Klaus und sein Team zurück. Sie versuchten den Beitrittsprozess aus buchhalterischer Sicht zu bewerten. Sie zählten auf, was man gewinne und was man verliere, wobei permanent hervorgehoben wurde, was durch eine EU-Mitgliedschaft alles verloren ginge. Dieser Ansatz vernachlässigte jedoch völlig die politische und philosophische Dimension einer Mitgliedschaft, die genauso wichtig war – wenn nicht sogar wichtiger“, erläutert Pehe.

Das weit entfernte Brüssel

Trotz manchen euroskeptischen Stimmen sprachen sich die tschechischen Bürgerinnen und Bürger in Referendum eindeutig für einen Beitritt zur EU aus. Mehr als 77 Prozent der teilnehmenden Wählerinnen und Wähler votierten dafür. Dieses Ergebnis muss aber die tatsächliche Stimmung im Land nicht unbedingt wiedergegeben haben, denn ein Teil der Gegnerinnen und Gegner der europäischen Integration blieb vermutlich zuhause – die Wahlbeteiligung lag nämlich bei nur rund 55 Prozent. Der Sozialwissenschaftler Martin Buchtík glaubt jedoch, dass das Ergebnis wohl kaum anders ausgefallen wäre, wenn mehr Bürgerinnen und Bürger zu den Urnen gegangen wären. Die Tschechinnen und Tschechen wollten also in die EU. Und damit wurde ein wichtiges Ziel der Samtenen Revolution realisiert.

„Als das dann erledigt war, haben wir uns aber nicht weiter damit beschäftigt. Die Politiker und auch der Rest der Gesellschaft setzten sich nicht mehr mit der weiteren Ausrichtung unseres Landes auseinander. Wir wurden Mitglied der EU, damit waren wir ‚zurück in Europa‘, und diesen Punkt konnten wir somit abhaken. Die EU geriet damit hierzulande in Vergessenheit“, so Buchtík.

Auch dies ist vielleicht einer der Gründe dafür, warum Tschechien seit Langem zu den euroskeptischsten Staaten zählt. Die Menschen hierzulande würden der EU nur wenig Vertrauen schenken, erläutert der Sozialwissenschaftler:

Foto: Kristýna  Maková,  Radio Prague International

„Wir Tschechen haben oft nicht das Gefühl, in der EU etwas bewirken zu können. Wirklich viele hierzulande denken, dass ‚über uns, ohne uns‘ entschieden wird – also fast schon so wie beim Münchner Abkommen von 1938. Wir wissen nicht, wie die EU funktioniert, und auch nicht, was uns die Mitgliedschaft eigentlich bringt. In unseren Erhebungen der vergangenen etwa zehn Jahre zeigt sich, dass die meisten Menschen in Tschechien die EU mit Kleinigkeiten in Verbindung bringen. Jeder erinnert sich noch daran, dass die Gurken gerade sein sollen und die Bananen krumm und dass dies die Europäische Union angeordnet hat. Im Grunde sind das Anekdoten. Aber es sind gerade diese Anekdoten, die die Menschen in Tschechien am häufigsten mit der EU in Verbindung bringen: Energiesparlampen, die Leistung von Staubsaugern, und dass der in Tschechien produzierte Rum nicht mehr ‚Rum‘ heißen darf. Es gibt etliche dieser Mythen. Und genau deshalb stören sich die Menschen in Tschechien an der Europäischen Union – weil sie sich angeblich nur mit Nebensächlichkeiten beschäftigt.“

Obwohl Tschechien durch die Mitgliedschaft in der EU und in der Nato politisch und militärisch fest in westlichen Strukturen verankert wurde, sei sich die Gesellschaft hierzulande mitunter immer noch nicht ganz sicher, wohin sie gehören wolle, meint Buchtík:

„Etwa 45 Prozent der Menschen in Tschechien sagen, sie wollen zum Westen gehören, was eng mit der EU-Mitgliedschaft verbunden ist. Rund drei bis vier Prozent wollen zum Osten gehören. Und der Rest will eine zweite Schweiz sein, eine Brücke zwischen Ost und West. Das ist in diesem Teil Europas allerdings nichts Ungewöhnliches. Die Leute in der Slowakei, in Ungarn oder in Serbien sagen das Gleiche. Spannend ist aber, dass sich die Vorstellung von Tschechien als ‚zweiter Schweiz‘ hierzulande bereits in der Zwischenkriegszeit stark aufkam. Es ist ein Leitmotiv, das sich durch unsere Geschichte zieht. Mittlerweile ist es so weit gekommen, dass die Schweiz für die Tschechinnen und die Tschechen das zweitbeliebteste Land ist – gleich nach der Slowakei. Dabei wissen wir über die Schweiz im Allgemeinen nur, dass die Natur dort schön ist, wie auch in Tschechien, und dass dort Kühe weiden, die manchmal auch lila sind, aus deren Milch sich hervorragender Käse und großartige Schokolade herstellen lassen. Es gibt dort Banken, womöglich sogar Goldschätze, und es werden dort teure Uhren hergestellt. Und das war es dann aber auch schon mit unseren Kenntnissen über dieses Land.“

Europäisches Parlament,  Brüssel | Foto: bisi,  Pixabay,  Pixabay License

Vielfältige Gruppe der Gegner

Die jeweiligen Ansichten über die geopolitische Stellung Tschechiens überschneiden sich in gewisser Hinsicht mit der Haltung der tschechischen Bevölkerung zur Europäischen Union. Eine westliche, proeuropäische Haltung präferieren rund 40 Prozent der Tschechinnen und Tschechen, wobei etwa ein Viertel für eine Vertiefung der europäischen Integration ist. Weitere 20 Prozent haben keine Meinung zur EU – entweder weil sie sich nicht im Informationsdschungel orientieren können, oder weil sie sich nur um ihr eigenes Leben kümmern. Die verbleibenden 40 Prozent sind Kritiker der EU. Laut Sozialwissenschaftler Buchtík sind dies vor allem Menschen, die finanziell nicht gut gestellt sind und die die innenpolitischen Veränderungen nach 1989 kritisch beäugen.

„Diese 40 Prozent unterteilen sich in 30 Prozent Gegner und 10 Prozent radikale Gegner, die entweder sehr engagiert sind oder aber gänzlich resigniert haben. Ein Teil von ihnen steht unter dem Einfluss russischer Propaganda. Aber generell ist diese Gruppe sehr vielfältig. Man kann nicht behaupten, dass es eine geschlossene, ausschließlich prorussische Gruppe ist. Oftmals handelt es sich um ältere Leute mit wirtschaftlichen Problemen. Zwei Fünftel der erwachsenen Menschen in Tschechien fahren zudem nicht ins Ausland. Sie haben dafür entweder kein Geld, bringen nicht die nötigen Sprachkenntnisse mit oder werden durch Krankheiten daran gehindert. Für diese Menschen sind Vorteile wie Reisefreiheit, Roaming oder grenzüberschreitender Warenverkehr nur abstrakte Begriffe, mit denen sie nicht viel anfangen können“, so der Sozialwissenschaftler.

Das geringe Vertrauen eines Teils der tschechischen Gesellschaft in die EU hänge aber nicht nur von sozioökonomischen Faktoren ab, sondern gehe auch auf die Haltung einiger hochrangiger Politikerinnen und Politiker zur europäischen Integration zurück, findet Buchtík:

„Es gab hier keine starken Fürsprecher, die erklärt haben, weshalb eine Mitgliedschaft in der EU für uns nutzbringend ist. Stattdessen war da Staatspräsident Václav Klaus, der die Europäische Union sehr kritisch gesehen hat. Das zeigte sich etwa bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon, den Klaus lange Zeit nicht unterschreiben wollte. In Tschechien wurde keine ausgewogene Debatte geführt. Es fehlte eine Stimme, die gesagt hätte, dass es wichtig ist, in der EU zu sein. Das war zwar allgemeine Meinung, aber in Wirklichkeit erhob niemand seine Stimme in diesem Sinn.“

Warum wird in den tschechischen Medien in Zusammenhang mit der EU mitunter der Begriff „Diktat aus Brüssel“ benutzt? Wie stehen die einzelnen politischen Parteien zur europäischen Integration? Und wie hat sich die jüngste tschechische Ratspräsidentschaft auf die öffentliche Meinung über die EU ausgewirkt? Die vollständige Version des Podcasts ist ab jetzt auf unserer Webseite und in allen gängigen Podcast-Apps verfügbar. In der nächsten Folge geht es um die Einstellungen der Tschechinnen und Tschechen zum Thema Flucht und Asyl.

Autor: Filip Rambousek
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