Fußball-EM: Der rein ergebnisorientierte Fußball findet immer weniger Anhänger
Im heutigen Sportreport dreht sich alles wieder einmal um den Fußball. Aber wer spricht unter den Sportinteressierten in diesen Tagen schon über etwas anderes? Auch Lothar Martin nicht.
Vor einem Monat haben wir darüber berichtet, dass der tschechische Fußball am Scheideweg steht. Zum einen droht ein Bestechungsskandal in der Gambrinus Liga, der obersten Spielklasse des Landes, den hiesigen Clubfußball zu erschüttern. Zum anderen aber wartete die tschechische Sportöffentlichkeit gespannt darauf, was ihre Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Portugal zu Wege bringen wird. Und das, was sie im bisherigen EM-Verlauf gezeigt hat, konnte sich durchaus sehen lassen. Denn mit welchem Engagement die tschechischen Elitekicker zunächst die Begegnung gegen die äußerst diszipliniert spielenden Letten von einem 0:1-Rückstand in einen 2:1-Sieg umgebogen haben, vor allem aber mit welch unglaublicher Moral und spielerischer Finesse sie im bisherigen "Hammermatch" des EM-Turniers die Holländer nach einem 0:2-Rückstand noch mit 3:2 in die Knie gezwungen haben, das hat ihnen die allergrößte Bewunderung eingebracht. Zu Recht. Daher konnte nach dem Knallerspiel der Tschechen gegen die Niederlande auch der hierzulande der negativen Entwicklung des einheimischen Clubfußballs sehr kritisch gegenüberstehende Ex-Auswahlspieler Ladislav Vízek erleichtert konstatieren:
"Also jetzt, da unser Fußball nach der Schiedsrichteraffäre ziemlich weit unten angelangt ist, brauchten wir einen Erfolg der Nationalmannschaft wie die Luft zum Atmen."
Ladislav Vízek, der 1980 seine größten sportlichen Erfolge feierte, als er mit der Auswahl der damaligen Tschechoslowakei in Italien zunächst EM-Dritter und kurze Zeit später in Moskau Olympiasieger wurde, ist jedoch bei weitem nicht der Einzige, der mit Freude registriert, wie sich die tschechische Mannschaft bisher in Portugal geschlagen hat. Sein ehemaliger Teamgefährte, der Kapitän des Olympiasieger-Teams von 1980 Ludek Macela, antwortete auf unsere Frage, was eine erfolgreich geführte Europameisterschaft für das Land und den hiesigen Fußball bedeute:"Also ich denke, das ist eine gute Präsentation unseres Fußballs, all unserer Spieler und selbstverständlich der Arbeit unseres gesamten Fußballsports, angefangen von den jüngsten Nachwuchsmannschaften bis hin zu den Ältesten."
Dank dieser guten Repräsentation sind nicht nur die inneren Probleme des tschechischen Fußballs vorerst in den Hintergrund gerückt, nein die toll aufspielende Mannschaft um Kapitän Pavel Nedved ist mit einem Male vom Geheimtipp zum Mitfavoriten aufgestiegen. So sieht es jedenfalls auch Ladislav Vízek, nachdem er gefragt wurde, ob er auch noch nach dem großen Match gegen die Niederlande an seiner Meinung festhalte:
"Jawohl, daran halte ich fest, auch wenn wir seit dem Holland-Spiel die Bezeichnung Geheimfavorit wohl abgelegt haben. Denn ich denke, dass uns sowohl die Fußballexperten als auch unsere Fans nach der gezeigten Leistung nun mittlerweile zum Kreis der echten Favoriten zählen werden. Also, ein Geheimtipp sind wir nun nicht mehr, sondern schon so etwas wie ein Titelkandidat, zumal unsere Chancen auf den Europameistertitel weiterhin intakt sind."
Dennoch, Ladislav Vízek gehört im Land des Fußball-Europameisters von 1976 zu jenen Vertretern, die stets eher etwas pessimistischer an die Sache herangehen und die eigene Mannschaft noch lange nicht ganz oben sehen. Deshalb hegte Vízek bereits vor dem bekannt werden von Viertelfinalgegner Dänemark gleich wieder leise Zweifel darüber, dass die Hoffnungen nun wieder ins Kraut schießen und die Nationalelf den größer gewordenen Erwartungen nicht gerecht werden könnte:
"Nun, vor dem Viertelfinale habe ich schon wieder schreckliche Angst. Aber das ist mein pessimistisches Naturell. Ich habe deshalb so meine Befürchtungen, weil wir erst unlängst bei der Eishockey-Weltmeisterschaft im eigenen Land nach lauter Siegen auch bis ins Viertelfinale gelangt waren, dort aber an den US-Amerikanern gescheitert sind. Die Viertelfinalpartie wird schon deswegen ein ganz wichtiges Spiel, weil es da bereits darum geht, eine Medaille zu gewinnen oder nach Hause fliegen zu müssen. Aber wir haben ein solch starkes Team, dass wir uns eigentlich vor diesem Viertelfinale nicht zu fürchten brauchen."
Dank ihrer starken Auftritte - eine Halbzeit lang gegen Lettland und über 90 Minuten bei dem schon mehrfach erwähnten Holland-Spiel - werden der tschechischen Mannschaft jedoch nicht nur von den einheimischen Fans die Daumen gedrückt. Auch hierzulande lebende Deutsche haben sich schon längst für die tschechische Spielweise begeistern können. Insbesondere dann, wenn Sie den Vergleich zur eigenen Vertretung ziehen müssen. Einer von Ihnen ist der Sportwissenschaftler und Journalist W. Ludwig Tegelbeckers, mit dem ich so ins Gespräch kam:
Herr Tegelbeckers, Sie leben seit einiger Zeit in Tschechien und sind sportinteressiert schon von Berufs wegen. Zurzeit ist die Europameisterschaft im Fußball im Gange und in Tschechien herrscht eine große Euphorie nach den ersten Spielen, die die tschechische Mannschaft da in Portugal abgeliefert hat. Ist man da nicht als deutscher Fußballfan ein bisschen neidisch auf das, was die Tschechen da in Portugal abliefern?
"Also nach dem ersten Spiel gegen Lettland war ich überhaupt nicht neidisch, da habe ich beim Zeitungshändler eigentlich nur die schlimmsten Sachen gehört über den tschechischen Fußball. Aber natürlich, nach einem Spiel wie dem jetzt vergangenen Holland gegen Tschechien muss man sagen: Da lacht einem Fußballfan einfach das Herz! Und als Freund des schönen und künstlerischen Fußballs kann man nur sagen: Es ist ein Traum gewesen, sowohl den Holländern als auch den Tschechen zuzugucken. Von daher: Als Deutscher kann man nur neidisch sein, natürlich."
Sie sagen gerade, als Freund des schönen, künstlerischen Fußballs... Nun ist es aber aus der Fußballgeschichte bekannt, dass meistens die Teams, die in der Vorrunde den schönsten Fußball spielen, dann mit nur einem Spiel, was dann vielleicht nicht so läuft, schon im Viertelfinale ausscheiden. Nicht selten setzen sich die Mannschaften durch, die am Anfang berechnend und ergebnisorientiert spielen, wie zum Beispiel Deutschland, dessen Auswahl ja schon je dreimal Welt- und Europameister geworden ist. Ist es da nicht doch besser, mit seinen Kräften hauszuhalten und das Beste erst am Schluss zu zeigen?
"Das wird sich ja zeigen, ob das die deutsche Mannschaft überhaupt leisten kann. Ich wäre da eher verhalten pessimistisch. Ich glaube, gerade in diesem Jahr hat es auch die Bundesliga in Deutschland gezeigt - und warum soll es bei der Europameisterschaft nicht so sein -, dass die Mannschaft Europameister wird, die den schönsten Fußball spielt. Und da gebe ich Tschechien sehr gute Chancen."
Nun aber klammern sich die Deutschen ja immer daran, dass sie eine Turniermannschaft sind, und dass sie, wenn es darauf ankam, immer noch bewiesen haben, Fußballspiele gewinnen zu können. Aber ich kenne auch die Diskussion, nach der sich in Deutschland immer mehr davon abwenden, die einfach diesen Fußball nicht mehr mögen, der so eine Art Mogelpackung darstellt: Immer mit wenig Aufwand und mit Glückstreffern eine Runde weiterzukommen. Und es würden immer mehr dazu neigen, dem Fußball zu frönen, bei dem das Herz lacht, wo wirklich was gezeigt wird. Wie ist Ihre Meinung dazu?
"Na ja, ich würde mal sagen, dass in Deutschland - wenn man genau hinhört und genau hinschaut -, die Identifikation mit der deutschen Nationalmannschaft in der deutschen Bevölkerung keine sehr große ist. Die ist dann da, wenn die deutsche Mannschaft gewinnt; aber wenn sie verliert, dann sind auch die Deutschen ziemlich enttäuscht und ziemlich am Schimpfen. Aber ich muss sagen, gerade diese Europameisterschaft zeigt doch, dass es auch in Deutschland einen objektiven Blick für den guten Fußball gibt, und den ist ja nun mal die deutsche Nationalmannschaft nicht zu spielen in der Lage. Das sieht man doch, wenn man die Spiele nebeneinander legt - Lettland gegen Deutschland und zwei Stunden später Tschechien gegen die Niederlande. Da muss man doch sagen: Wenn man das sieht, und eine von den beiden Topmannschaften des Abendspiels, nämlich Holland, bleibt dann eventuell nach dem dritten Vorrunden-Gruppenspiel auf der Strecke, dann tut es einem leid. Also das muss man sagen: Objektiv hätten es Tschechien und Holland verdient, und da kann sich Deutschland wieder durchwurschteln, aber geliebt und beliebt im Volk wird man nicht dafür."