"Geschrieben mit klarem Verstand und warmem Herzen": Die Reportagen Milena Jesenskas in der Zeitschrift Pritomnost 1937-39

Schriftstellerin und Publizistin Alena Wagnerova
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Im Mittelpunkt des nun folgenden Medienspiegels steht die Journalistin Milena Jesenska. In ihren Artikeln für die Zeitschrift Pritomnost aus den Jahren 1937-39 zeichnete Jesenska ein sehr differenziertes Bild der Situation unmittelbar vor Kriegsbeginn. Zum Gespräch über Milena Jesenska hat Silja Schultheis die Schriftstellerin und Publizistin Alena Wagnerova eingeladen. Wagnerova ist Autorin u.a. einer Biographie über Milena Jesenska. Darin beschreibt sie Jesenskas Artikel für die Pritomnost als herausragende Zeugnisse nicht nur über die damalige Zeit.

Gespräch mit der Schriftstellerin und Publizistin Alena Wagnerova

Schriftstellerin und Publizistin Alena Wagnerova
"Ich denke, sie sind nach wie vor aktuell, weil sie über die Ursachen Auskunft geben - über ein Bündel von Ursachen, die letztlich zum Zweiten Weltkrieg führten. Und sie sind aktuell auch in ihrer journalistischen Form: unheimlich lebendig, sehr überzeugend, geschrieben mit klarem Verstand und warmem Herzen."

Milena Jesenska hat ja einige Reisen ins Grenzgebiet unternommen - nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland, als die Lage schon sehr angespannt war. Sie hat sich sehr differenziert mit dem Schicksal der dort lebenden Deutschen auseinandergesetzt. Woher kam diese Empathie?

"Man könnte sagen: Milena Jesenska war nie eine Nationalistin. Sie verkehrte schon in ihrer Jugend in deutsch-jüdischen Kreisen, im Cafe Arco. Sie bewegte sich in diesem - heute sagt man: multikulturellen - Prager Milieu. Und sie war die führende Tschechoslowakin. Und gleichzeitig war sie ein gerechter Mensch. Später gibt es einen Artikel, wo sie von jemandem dafür gelobt wurde, dass man merkt, sie sei eine Tschechin. Und sie meint dazu: Nein, ich bin vor allem ein Mensch. Und das ist, glaube ich, der Grund und der Kern. Und das spürt man in den Reportagen, die

einerseits Partei beziehen für die Tschechoslowakei. Aber sie sind gleichzeitig immer auch sehr kritisch. Die Zensur hat in den Reportagen immer einige Zeilen gestrichen und man muss sich fragen: Was hat da wohl gestanden? Wohl sehr starke kritische Worte auch über die tschechoslowakische Politik. Und zwar insbesondere in dem Punkt, dass man zu lange gewartet hat mit der Unterstützung der Antifaschisten in den Grenzgebieten - der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der Katholiken - das waren drei Strömungen unter den Deutschen in den Grenzgebieten, die sich gegen den Strom der Henlein-Bewegung stellten. Und sie bekamen am Anfang zu wenig Unterstützung von der Tschechoslowakei. Und das prangert sie ein."

Sie schreiben in Ihrer Biographie über Milena Jesenska, dass die Zeit damals reif war für diese Form der engagierten politischen Reportage, die sie in der Pritomnost kultiviert hat. Wenn man Berichte aus dieser Zeit liest, bekommt man ja aber häufig den Eindruck, dass eigentlich im Gegenteil die Tendenz zu pauschalen (Vor)urteilen herrschte und es eben gerade keinen differenzierten Blick gab. Ist das nicht ein Widerspruch?

"Ich glaube, das ist kein Widerspruch. In der Zeit nach 1933 war die Tschechoslowakei ein Zufluchtsort für die flüchtenden Antifaschisten aus dem Dritten Reich. Die Sozialdemokraten hatten ihr Zentralkomitee seit 1935 in Prag. Und die tschechische Intelligenz hat gerade diese demokratischen, antifaschistischen Reichsdeutschen sehr stark unterstützt. Sicherlich gab es Menschen und Gruppierungen, die nur ausgesprochen nationalistisch dachten und für die alles Deutsche stigmatisiert war. Aber es gab auch verschiedene andere Strömungen. Und ich glaube, die Reportagen waren getragen von einem tiefen Gefühl für Gerechtigkeit, sie waren menschlich ansprechend und hinreißend."

Was für eine Rolle konnte eigentlich damals eine Zeitschrift wie die Pritomnost spielen?

"Naja, die Pritomnost war sicherlich kein Massenblatt. Aber offensichtlich haben sie sehr viele Menschen gelesen, gerade in dieser kritischen Zeit. Weil diese Reportagen ein starkes Echo hatten. Und sie vermittelten auch eine Hoffnung: Man kann die Tschechoslowakei erhalten, das ist der Tenor der Reportagen. Und das ist eine moralische Position. Faktisch wusste Jesenska sehr wahrscheinlich, dass der Kampf nicht zu gewinnen ist, dass die Tschechoslowakei aufgegeben wird. Weil sie einen sehr klaren politischen Kopf hatte..."

...was ja auch der Grund dafür war, dass sie die Zeitung nicht lange leiten konnte nach der Verhaftung Peroutkas.

"Ja. Peroutka wurde sehr früh verhaftet, schon kurz nach der Besatzung. Sie selber wurde dann am 11. November 1939 verhaftet. Und die ganz konkrete Arbeit von Milena Jesenska als Journalistin setzt sich fort in der illegalen Zeitschrift 'V boj'".

Jetzt haben wir viel über Milena Jesenska als Journalistin gesprochen. Aber sie hat sich ja nicht nur in ihrern Artikeln auf die Seite der Unterdrückten gestellt.

"Ja. Milena Jesenska hat auch sehr praktisch gearbeitet. 1938, nach dem Münchener Abkommen, beginnt bereits die Arbeit für die Flüchtlinge, für Menschen, die bedroht waren, um diese in den Westen zu bringen. Und das intensiviert sich nach dem 15. März. Die Menschen treffen sich bei ihr und werden dann mit anderen Helfern über die Grenze nach Polen transportiert. Sie selbst bleibt im Protektorat."

Ganz bewusst.

"Ganz bewusst, denn sie sagt: Ich kann nicht diese Artikel schreiben, um mich dann abzusetzen. Das war für sie ethisch nicht vertretbar."

Abschließend noch eine Frage zur aktuellen politischen Situation in Tschechien: Der neue tschechische Ministerpräsident hat kürzlich gesagt, dass er eine "humanitäre Geste" an die sudetendeutschen Vertriebenen nicht ausschließt - vorausgesetzt, sie haben Hitler nicht unterstützt. War Milena Jesenska ihrer Zeit wirklich so weit voraus? Sie hat bereits damals geschrieben, dass Deutscher nicht gleich Deutscher ist.

"Ja. Milena Jesenska war eben in dieser Frage ein sehr gerechter Mensch. Am 15. März 1939, als sich die Menschen sich am Grab des unbekannten Soldaten versammelten, beobachtete sie einen Wehrmacht-Offizier, der an diesem Grab salutierte. Und in ihrer Reportage "Der 15. März 1939" schreibt sie: In Rücken der trauernden Menge sah ich einen deutschen Soldaten, der salutierte. Er sah, dass wir weinten, weil er da war. Er verstand offenbar, warum wir trauerten. Ich blickte ihm nach und dachte an die große Illusion: Werden wir wirklich einmal nebeneinander leben - Deutsche, Tschechen, Franzosen, Russen, Engländer? Ohne uns hassen zu müssen, ohne uns Unrecht zu tun? Werden jemals die Grenzen zwischen den Ländern fallen so wie zwischen uns, wenn wir uns näher kommen? Wie schön wäre es, das zu erleben. Und wir haben das Glück, das doch vielleicht zu erleben, wenn das glückt mit der Europäischen Union. Milena Jesenska hat das nicht mehr erlebt, weil sie am 17. Mai 1944 in Ravensbrück starb."

Milena Jesenska

"Alle meine Artikel sind Liebesbriefe" von Alena Wagnerova

Bollmann Verlag, Köln, 1994

ISBN: 3927901547