Große Heilige und kleine
Tschechien hat gewählt: kein neues Parlament, aber immerhin den wichtigsten Wenzel der Landesgeschichte. Hintergründe und Analysen zu der Wahl im heutigen Feuilleton von Thomas Kirschner.
Etwa in der Gestalt des Heiligen Wenzel daselbst, auf Tschechisch Svaty Vaclav, der am vergangenen Dienstag seinen Ehrentag hatte. Als Staatsgründer und Staatspatron wacht er im Geiste er über das ganze Land und in Bronze über den Wenzelsplatz, und sein Feiertag wird zugleich als Staatsfeiertag begangen. Nun ist er aber doch schon mehr als tausend Jahre tot - Grund genug für die auflagenstärkste Tageszeitung Mlada Fronta DNES nachzuforschen, ob nicht inzwischen noch ein heiliger Wenzel nachgewachsen ist. Oder genauer gesagt: ein Vaclav, der die Geschicke und Geschichte des Landes noch nachhaltiger beeinflusst hat als das heilige Original.
1801 Leser haben sich an der Internetumfrage der Zeitung beteiligt - und siehe da: Der Heilige Wenzel landet mit 457 Stimmen auf einem zwar guten, aber dennoch zweiten Platz. Der Titel "wichtigster Vaclav der tschechischen Geschichte" geht demgegenüber mit über 200 Stimmen Vorsprung an den Ex-Präsidenten und Ex-Dissidenten Vaclav Havel (674 Stimmen). Den Sprung über die heilige Hürde nicht geschafft hat der gegenwärtige Staatspräsident Vaclav Klaus, der aber immerhin auf dem dritten Rang liegt. Über seine Stimmenzahl schweigt sich die Mlada fronta ganz staatstragend aus. Auf den weiteren Rängen finden sich dann noch einige dynastisch durchnummerierte Wenzel, die sich im Dunkel der böhmischen Geschichte verlieren, unter anderm Wenzel IV., ein berüchtigter Taugenichts und Frauenheld. Kein Wort dagegen vom Schlagersänger Vaclav Neckar, der immerhin schon seit 30 Jahren als "Dr. Dam di Dam und seine Bazillen" auf den tschechischen Geschmack eintrommelt. Oder von Vaclav Fischer, der mit seinen Reisebüros die Tschechen in die Welt schickte sowie mit seiner Modekette und seinen Restaurants Segler-Schick und den Ruccola-Salat in Tschechien ausgewildert hat. Und darüber auch noch zuerst in die Politik und dann pleite gegangen ist, wovon zumindest letzteres die Grundzüge des Märtytertums ja schon erfüllt. Alles müßig, alles umsonst?Der Sieg von Vaclav Havel zeigt, dass eben weder Ruccola-Salat, noch Frauengeschichten, ja nicht einmal die aktuelle Staatspräsidentschaft reicht, um den Staatspatron im Kampf um den Titel des wichtigsten Wenzels des Landes aus dem Rennen zu werfen. Vielmehr muss man sich mit dem Gegener auseinandersetzen, ihn attakieren. In Amerika zeigen Bush und Kerry gerade, wie so etwas geht. Und als Wähler des wichtigsten Wenzels erinnert man sich da an die Wenzelsstatue des Prager Künstlers David Cerny.
Wie in der perfekt kopierten Vorlage, dem historischen Denkmal auf dem Wenzelsplatz, sitzt auch Cernys Heiliger Vaclav ernst dreinblickend auf seinem Ross - nur eben bäuchlings, denn das arme Pferd baumelt tot von der Decke, wo es mit allen Vieren nach oben aufgehangen wurde. Die komisch-schockierende Installation nagt seit einigen Jahren am vorher fleckenlosen Image des Landespatrons. Sie hängt - und hier wird es wenzelwahlpolitisch brisant - am Wenzelsplatz im Lucernapalast. Den hat nicht nur Vaclav Havels Großvater erbaut sondern er befindet sich nach der Restituierung auch wieder im Besitz der weiteren Havelschen Familie. Wie man sieht: der Weg zum Wahlerfolg führt über einen gut organisierten Familienclan und einen präzisen, von langer Hand vorbereiteten Wahlkampf. In Tschechien genau wie in Amerika.