Handtasche weg!
Und bald ist wieder Weihnachten, die Zeit der Nächstenliebe und Freude. In einer Grossstadt wie Prag aber kann gerade diese Zeit nicht nur eine schöne Zeit sein, grübelt Alexander Schneller im heutigen Feuilleton.
Weihnachtszeit, fröhliche, selige Zeit. Adventszeit, die Zeit, in der alle Menschen einander lieben, sanft und mild gestimmt sind. Die Zeit, in der alle wissen: Geben ist seliger denn Nehmen. Pustekuchen! Die Adventszeit ist auch die Zeit der Langfinger, derer, die finden, dass Nehmen eh lukrativer ist als Schenken. Ich spreche, Sie haben es längst gemerkt, liebe Hörerinnen und Hörer, von den Taschendieben, die jetzt, just um diese Zeit herum, in allen grösseren Städten der Welt ihre Hochkonjunktur haben. Denn der Otto Normalverbraucher ist voll im Kaufstress und Kaufrausch, man ist nervös und unaufmerksam, und schon ists passiert. Wie eben auch uns, muss ich gestehen.
Es war letzte Woche. Meine Frau und ich kaufen in einem der grösseren Kaufhäuser Prags ein. Nichts Besonderes, etwas zum Essen und zum Trinken. Ich schiebe unseren Einkaufskorb, in dem meine Frau auch ihre Handtasche platziert hat, vor mir her. Nach etwa einer halben Stunde sind wir fertig und reihen uns in die Schlange vor der Kasse ein. Plötzlich werde ich stutzig. Wo ist denn die Handtasche meiner Frau? Ganz schnell stellen wir fest: Sie ist weg. Der Schock ist gross, wie auf Watte gehen wir, irren vor der Kasse herum, halten Ausschau nach Tasche und Dieben, wissen aber gleichzeitig schon, dass das absolut vergeblich ist. Weg ist weg. Jetzt kommt uns beiden fast gleichzeitig in den Sinn, was eigentlich passiert, besser gesagt: weg ist. Und das schockiert uns ein zweites Mal. Alles ist weg. Der Reihe nach: Das Portemonnaie mit 2000 Kronen, na ja, das kann man ja noch irgendwie verkraften, aber auch die Kreditkarten, der Versicherungsausweis der Krankenkasse, die tschechische Identitätskarte, etwas hierzulande fast schon Heiliges, der Schweizer Pass, das Jahresabonnement für die Prager Verkehrsbetriebe.
Aber es wird noch viel schlimmer: die Hausschlüssel, Visitenkarten, auf denen natürlich auch unsere Adresse zu lesen ist, das Mobiltelefon, und die besonders schlecht wieder zu beschaffenden Gegenstände: das Schminktäschchen mit Lippenstift, Puderdose, Eyeliner, Wimperntusche, die alten Fotos von Tochter und Sohn im zarten Kindesalter und schliesslich, um das Mass vollzumachen: die Agenda mit dem unerlässlichen Telefon- und Adressenregister, das man natürlich nicht kopiert hat. Alles unwiederbringlich verloren. Vieles lässt sich ersetzen, das meiste haben wir auch schon ersetzt. Die Sache mit den Ausweisen ist das Unangenehmste am Ganzen. Wer keine Identitätskarte, keinen Pass mehr hat, der hat auch keine Identität mehr, ist niemand. So bleibt uns der Gang zur Polizei und zu den Ämtern nicht erspart. Aber ausser den geklauten Sachen fehlt vor allem ein bisschen vom Vertrauen in die Menschen. Und das ausgerechnet in der Adventszeit!
Aber dennoch: Wir haben unsere Lektion gelernt und sind schon wieder soweit, dass wir der grossen Mutter Prag, dieser unvergleichlichen aller Städte, verzeihen, dass nicht alle ihre Kinder wohlgeraten sind. Allen Besuchern Prags zur Weihnachtszeit wünschen wir trotzdem einen schönen Aufenthalt und: Passen Sie gut auf Ihre Handtaschen auf!