Im Rekordfieber: Tschechen auf der Jagd nach dem seltsamen Superlativ
Von Zwetschgenknödeln bis Purzelbäumen versuchen sich tschechische Rekordaspiranten an fast allem was sich besonders groß, klein, oft oder irgendwie anders machen lässt - halt in rekordverdächtiger Weise. In der böhmischen Kleinstadt Pelhrimov haben sie ein eigenes Museum bekommen. Dorthin und zu einem mährischen Knödelwettessen lädt Sie Thomas Kirschner in den folgenden Minuten in einer sommerlichen Ausgabe unserer Sendereihe Forum Gesellschaft ein.
Pelhrimov ist ein historisches Städtchen auf der Böhmisch-Mährischen Höhe, der Legende nach im 13. Jahrhundert vom Prager Bischof Pilgram gegründet, als dieser sich auf einer Wallfahrt nach Rom an einer Quelle erfrischte. In ganz Tschechien bekannt ist Pelhrimov aber nicht durch seine reiche Geschichte, sondern als "Stadt der Rekorde". Jedes Jahr im Juni treffen sich Begabte und Begeisterte aus ganz Tschechien zum "Festival der Rekorde", um neue Höchstleistungen in den verschiedensten Disziplinen aufzustellen - je kurioser, desto besser. Einer der Begründer des Festivals und Rekordhalter der ersten Stunde ist Miroslav Marek. Er erzählt, wie alles anfing.
"Wir waren hier so eine Truppe von Begeisterten, die sich zu den verschiedensten Überflüssigkeiten zusammengetan haben. Und irgendwann 1988 haben wir uns dann gesagt: Versuchen wir doch ins Guinness Buch der Rekorde zu kommen! Und so haben wir den ersten Weltrekord hier in Pelhrimov aufgestellt. Und zwar mit einem so genannten ´russischen Rad´- das ist so eine Übung, bei der sich die Leute an den Händen zu einer Kette verhaken und der Reihe nach übereinander hinweg Purzelbäume machen, so dass es zum Schluss wie eine Panzerkette aussieht. Und wir sind so von Kremesnik bis Pelhrimov gepurzelt, das sind gut 12 Kilometer oder 10.684 Purzelbäume. Jeder von den 12 Teilnehmern hat im Schnitt fünf Kilo Gewicht verloren - irgendwo auf der Strecke müssen als noch 60 Kilo Mensch herumliegen, das ist immerhin ein ganz ansehnlicher Jüngling."
Inzwischen wurden mehr als tausend Rekorde in Pelhrimov aufgestellt. Aus den Exponaten, die sich rund herum angesammelt haben, entstand vor neun Jahren das "Museum der Rekorde und Kuriositäten", das im mittlelalterlichen Iglauer Stadttor unterbracht ist. Eine gläserne Dampfmaschine, eine spielbare Geige aus Streichhölzern oder ein nur vier Millimeter langes Papierschiffchen zeugen von dem unermüdlichen Eifer tschechischer Rekordjäger, die Dinge in verschobenen Maßstäben und den umöglichsten Materialien neu zu erschaffen. Eine besondere Kuriosität in Tschechien ist der mit 2,5 Millimetern lichter Höhe kleinste Bierkrug der Welt. Und der längste Schal der böhmischen Länder misst über 100 Meter. Ende offen - die Museumsbesucher dürfen weiterstricken. Den Anschein, dass die Tschechen eine besondere Beziehung zu derlei seltsamen Höchstleistungen haben, bestätigt auch Museumsdirektor Miroslav Marek:
"Ich glaube schon, dass das so ist, und zwar aus zwei Gründen: Einmal sind wir Tschechen einfach eine verspielte Nation, und zum anderen haben auch wir mit unseren Aktionen in Pelhrimov, ohne dass wir das von Anfang an gewollt hätten, ein gewisses Rekordfieber geweckt."
Ein gewisses Rekordfieber und einen dehnbaren Magen brauchen auch die Titelaspiranten auf dem Trnkobrani-Festival in Slusovice bei Zlin. Das findet jeweils im August zur Zwetschgenlese in der so genannten mährischen Walachei statt, der Heimat des tschechischen Slivovice. Entsprechend geht es etwas rauer zu: Höhepunkt des Wochenendes ist seit 1967 alljährlich das legendäre Zwetschgenknödelwettessen, erläutert der Veranstalter Zdenek Jurasek.
"Der Wettbewerb ist sehr anspruchsvoll, denn er läuft über eine ganze Stunde, und in dieser Zeit müssen die Teilnehmer so viele Zwetschgenknödel wie möglich essen. Der Weltrekord liegt bei 191 Stück, das sind so fünf bis sechs Kilo. Schwierig ist es auch deshalb, weil die Teilnehmer dabei nichts trinken dürfen. Die Zuschauer sind begeistert dabei, obwohl der Wettbewerb eine volle Stunde dauert. Viele der Rekordhalter werden geradezu zu nationalen Stars - nicht nur auf dem Gebiet der Zwetschgenknödel, sondern auch bei anderen Esswettbewerben."
Eine der Galionsfiguren der tschechischen Wettesser-Szene ist der 39-jährige Rostislav Sirmer. Der Weg zu den Wettkämpfen war für den 140-Kilo-Mann ein ganz logischer:
"Das ist eigentlich schon von meiner Physiognomie her gegeben, denn ich bin schon von klein auf ein großer Mensch. Und Essen war schon immer mein Hobby."
Mit einem Ergebnis von 161 Stück ist Sirmer auch der ehemalige Zwetschgenknödel-Weltrekordler des Jahres 2001. Und wie fühlt man sich nach einer Knödelportion, die gut und gerne für eine ganze Schulspeisung gereicht hätte?
"Das erste Gefühl, als ich vom Podium gestiegen bin, war ein schrecklicher Durst. Einen vollen Bauch habe ich erst gefühlt, als ich darauf noch drei Liter Wasser getrunken habe."
Ob in diesem Jahr die 200-Knödel-Marke fällt, wird sich im August unter regem Interesse der tschechischen Medien auf dem Trnkobrani-Festival zeigen. Dass das Ergebnis nicht von der Figur abhängt, zeigt der gegenwärtige Knödelrekordler Kamil Hamersky - mit 75 Kilo ein wahrer Hungerhaken. Wie es aber überhaupt menschenmöglich ist, solche Knödelportionen in sich unterzubringen, da ist auch Festivalveranstalter Zdenek Jurasek ratlos.
"Das weiß ich wirklich nicht! Aber die Spitzenesser haben da ihre Methoden. Der gegenwärtige Weltrekordhalter Kamil Hamersky isst die Knödel etwa geradezu wie eine Maschine. Er steckt sich vorher sein Ziel und weiß dann, alle wieviel Sekunden er einen Knödel essen muss und hält sich strikt an das Tempo. Er trainiert das zu Hause - seine Frau kocht ihm Knödel und steht mit der Stoppuhr daneben. Aber trotzdem - das sind keine Profis, sondern Amateure, die das gerne tun."
Und das verbindet die Zwetschgenknödelwettesser aus der Mährischen Walachei mit den Rekordaspiranten in Pelhrimov. Auch beim "Festival der Rekorde" gibt es die "Konsumationswettbewerbe", wie die noch etwas sozialistisch gefärbte Gattungsbezeichnung in Tschechien lautet. Das Wettschnabulieren findet in Pelhrimov allerdings in gemäßigteren Formen statt - die Ergebnisse sind gleichwohl nicht weniger beeindruckend, berichtet Miroslav Marek vom Museum der Rekorde. So etwa im Fachbereich Schnelltrinken:
"Wir hatten hier zum Beispiel eine 5 x 0,5-Liter-Bier-Staffette: fünf Jungs in einer Reihe, die nacheinander jeweils ein Bier austrinken müssen. Wenn der eine das Glas leer absetzt, darf der nächste anfangen. Die Bestzeit für die fünf Bier waren 13,18 Sekunden!"
Der Leiter des Rekord-Museums Marek legt allerdings Wert darauf, dass es in Tschechien auch Weltrekordler in weniger ausschweifenden Disziplinen gibt.
"Zum Beispiel Jan Skorkovsky, der als bislang einziger Mensch der Welt einen kompletten 42-Kilometer-Marathon gelaufen ist und dabei mit den Füßen und dem Kopf einen Fußball so jongliert hat, dass er ihm nicht ein einziges Mal auf den Boden gefallen ist! Oder Josef Kocourek, unser diesjähriger ´Rekordhalter des Jahres´, der sozusagen einer politischen Disziplin angehört: Er ist der am längsten amtierende Parlamentstenograph der Welt und hat diese Funktion ununterbrochen von 1945 bis 2004 ausgeübt!"
Und auch Museumschef Marek selbst hat sich noch nicht aus dem aktiven Rekordlerleben zurückgezogen - auch wenn die zehntausend Purzelbäume nun schon eineinhalb Jahrzehnte zurückliegen. Er sei amtierender tschechischer Meister im Spielkartenweitwurf, erzählt Marek - mit 31 Metern und 11 Zentimetern liege er allerdings gut zwanzig Meter unter dem Weltrekord. Und so gilt für ihn wie für alle Rekordaspiranten: Es will halt geübt sein...