Interview: Martin Mejstrik und Jan Ruml

17. November 1989

Im Programm von Radio Prag geht es nun weiter mit einem Interview zweier Männer, die im Jahre 1989 zu den führenden Persönlichkeiten der Samtenen Revolution gehört haben, dann aber verschiedene Wege gegangen sind. Durch die Sendung führen Sie Jörn Nuber und Dagmar Keberlova.

17. November 1989
Martin Mejstrik ist heute als oppositioneller, unbezahlter Kommunalpolitiker tätig und als Gärtner auf dem Prager Petrin/Laurenziberg angestellt. Jan Ruml ist Senator und stellvertretender Senatschef. Beiden stellten wir die Frage, was sich ihrer Ansicht nach heute, im Vergleich zu den Jahren nach der Revolution, am meisten in der sich transformierenden tschechischen Gesellschaft verändert hat. Jan Ruml hierzu:

"Die tschechische Gesellschaft hat sich bestimmt am meisten in der Wahrnehmung der individuellen Freiheit verändert, sowie darin, dass wir einen Raum für Aktivitäten jedes einzelnen Bürgers geschaffen haben. Dies alles ist selbstverständlich dadurch eingeschränkt, dass die Generation, die den Kommunismus erlebt hat, dies als Belastung mit sich trägt. Eine große Chance ist es aber für die junge Generation, die heute ganz anders denkt, als wir es vor 10 Jahren taten. Und dies ist meines Erachtens die größte Veränderung: die junge Generation."

Der ehemalige Studentenführer Martin Mejstrik sieht die Veränderung in dem Verlust des Rauschgefühls, dass Anfang der 90er Jahre da war:

"Zweifellsohne sind wir nach den Rauschgefühlen wieder nüchtern geworden. Der Gesellschaft wurde klar, dass man sich auf die Politiker nicht verlassen kann und sich um sich selbst kümmern muss. Bestimmt sind wir im bürgerlichen Sinne reif geworden."

Oft wird die tschechische Gesellschaft als frustriert bezeichnet. Große Skandale bleiben unbestraft, große Themen wie das der Staatspolizei bleiben ungelöst, was zum Teil eine Art von Resignation bei den Menschen verursacht. Auf der anderen Seite werden große Fortschritte erzielt, die wie nach dem altbekannten "good News no News" geschehen - ohne große Aufmerksamkeit. Optimismus oder Pessimismus- was überwiegt tatsächlich in den böhmischen Ländern? Jan Ruml antwortet:

"Ich glaube, dass dies ein Generationsproblem ist. Bei der jungen Generation, ist große Hoffnung in die Zukunft vorzufinden. Bei der älteren Generation ist Frustration aus unerfüllten Wünschen da, die von uns selbst vertieft wird. Wir können nämlich die Freiheit, von der ich gesprochen habe, in einer unpopulären Art und Weise nicht ausnutzen und zwar in der Übernahme eigener Verantwortung. Wir leben immer mit einer paternalistischen, sozialen Vorstellung vom Staat, der sich um unser Leben kümmern wird. Wir nutzen wenig die freien Aktivitäten jedes Einzelnen aus. Es hat sich zwar das Regime geändert, aber das System des Staates hat sich kaum verändert. Der Staat hat noch allzu viele Rechtsbefugnisse inne, er verhindert das Entstehen des Zwischenraumes zwischen dem Bürger und dem Staat, der die Gesellschaft tragen soll und den wir heute fälschlicherweise als bürgerliche Gesellschaft benennen."

Martin Mejstrik zufolge, ist es Realismus und Optimismus zusammen:

"Leider haben wir die Euphorie verloren. Die Erwartungen wurden nicht erfüllt. Worauf die Leute gehofft haben und was die politischen Spitzen damals präsentiert haben- dass wir eine bessere Politik machen werden, eine anständigere Politik als die Kommunisten machen werden - all dies ist nicht in Erfüllung gegangen. Das hat dann in der tschechischen Gesellschaft für lange Zeit Missstimmung und Deprimierung hervorgerufen. Jetzt befinden wir uns bereits in einer Zeit, in der keiner mehr von den Politikern erwartet, dass sie anständig handeln, nicht stehlen, sich ums Volk kümmern werden. Das ist für mich ein Signal, dass wir realistischer werden. Sehr positiv schätze ich die kommunale Ebene ein. Die Menschen beginnen sich zu interessieren, wo sie leben und warten nicht mehr, dass jemand für sie etwas erledigen wird. Über alle Hindernisse hinweg, die den Menschen seitens der Politik 12 Jahre lang gestellt wurden, wächst die bürgerliche Gesellschaft und das stimmt mich sehr optimistisch."

Den Blick in die nahe Zukunft zu werfen, einen Wunsch für die junge tschechische Demokratie, die wir heute feiern, auszusprechen, darum baten wir unsere heutigen Gäste zum Schluss, Martin Mejstrik:

"Ich würde mir neue Persönlichkeiten in der Politik wünschen. Junge Menschen, wenn möglich. Sie werden keine Erlöser sein, aber jüngere Leute, die nicht mehr im Kommunismus aufgewachsen sind, werden die Erfahrung einer demokratischen, fast normalen Gesellschaft haben. Auch werden sie Auslandserfahrung haben, Menschen die heute ihr Studium- oft im Ausland - abschließen oder bereits beendet haben und in der Welt herumgekommen sind. Daran glaube ich, dass mit der Ankunft des neuen politischen Bluts sich das politische Klima an der Spitze verändern wird. Meiner Meinung nach verdienen wir es, eine bessere politische Repräsentation zu haben als die derzeitige."

Der Senator Jan Ruml legt seine Hoffnung nicht zuletzt in die Europäische Union:

"Was den innenpolitischen Bereich betrifft, wäre eine Offenheit und Transparenz aller Geschehnisse, die mit dem öffentlichen Raum zusammenhängen, um den Bürgern Klarheit zu verschaffen, wünschenswert. Eine Kartellbildung zwischen Politik und Wirtschaft frustriert die Menschen unglaublich. Was die Außenpolitik betrifft, die sich ja auch auf die Innenpolitik auswirkt, sind es die Integrationsbemühungen der Tschechischen Republik, ein Teil Europas zu sein. Ich behaupte immer wieder, dass wir uns Tschechen erst im Rahmen Europas richtig verstehen werden. Erst wenn wir das Gefühl des Europäers in uns haben werden, weil wir einfach zu Europa gehören. Darin sehe ich eine große Hoffnung."

Autoren: Dagmar Keberlova , Jörn Nuber
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