„Jako kůl v plotě“ - Generalsekretär Jakeš fühlte sich vor 20 Jahren „einsam wie ein Zaunpfahl“
Das Jahr 1989 brachte die politische Wende in den Staaten Mittel- und Osteuropas mit sich. In der Tschechoslowakei besiegelte damals die Samtene Revolution im November das Ende der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei. Eine Ansprache des damaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Milouš Jakeš, im Juli 1989 hatte an der Machterosion des Regimes sicher nicht unbedeutenden Anteil. Das Tondokument stammt diesmal ausnahmsweise nicht aus unserem eigenen Tonarchiv.
„Die Sowjetunion, das ist etwas anderes. Da funktioniert es nicht, da ist alles überholt. Die Situation dort ist eine komplett andere als die bei uns. Unsere Dörfer sind höchst kultiviert, die ähneln im Alltagsleben, im kulturellen Leben, in der Ausstattung der Haushalte, der Bildung und so weiter unseren Städten.“
Milouš Jakeš war ohnehin bekannt für seinen wenig geschliffenen Umgang mit der tschechischen Sprache. In Červený Hradek lieferte er aber ein Feuerwerk unfreiwilligen Humors. Die Rede war konfus, durchsetzt von gestammelten Passagen und Versprechern und voller absurder Einschätzungen:
„Mehr oder weniger werden wir doch für alles irgendwie verantwortlich gemacht: ‚Es gibt kein Brot! Was macht die Regierung? Wie kommt es, dass es kein Brot gibt? Was macht die Partei, wie führt die, dass kein Brot ausgeliefert wird?’ Fragt irgendjemand im Kapitalismus so etwas? Überhaupt nicht, niemandem dort würde es einfallen, die Regierung damit in Verbindung zu bringen, dass der Bäcker kein Brot backen kann. Die kritisieren die Bäcker.“
Die kommunistische Parteiführung sah sich im Sommer 1989 in die Ecke gedrängt. Wenige Wochen vor Jakešs Auftritt in Červený Hradek hatten Bürgerrechtler - unter Führung des erst wenige Monate zuvor aus der Haft entlassenen Václav Havel - die Petition „Několik vět“ (Einige Sätze) veröffentlicht und darin Grundrechte eingefordert. Jakeš kritisierte eine Reihe bekannter Künstler, die das Dokument unterzeichnet hatten, und offenbarte damit ein Wohlstandsgefälle in der angeblich klassenlosen Gesellschaft:
„Keiner von uns bekommt so ein Gehalt wie diese Künstler. Ich kriege jedes Jahr eine Liste von Künstlern, die 100.000 Kronen und mehr verdienen. Nehmen wir Frau Zagorová, das ist ein liebes Mädchen, klar, aber die kriegt schon seit drei Jahren in Folge 600.000 Kronen pro Jahr. Und andere nicht nur 600.000 sondern 1 Million, 2 Millionen kriegen die, jedes Jahr. Und viele von denen, denen es so gut geht, die protestieren.“Bonmots wie das über das „liebe Mädchen Hana Zagorová“, ein Schlagerstar, wurden berühmt. Am berühmtesten aber wurde Jakešs Satz vom Zaunpfahl - auf Tschechisch „kůl v plotě“. Einer tschechischen Redensart nach, fühlt man sich einsam wie ein Zaunpfahl. Unter steigendem nationalen und internationalen Druck, fühlten sich auch die Parteibonzen im Sommer 1989 wie der berühmte Zaunpfahl:
„Es kommen ständig Botschafter. Es schreiben Regierungschefs. Und dieser Präsident der Sozialistischen Internationale, dieser Willy Brand. Alle mischen sich ein. Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Und deshalb ist für uns die Unterstützung von unten so wichtig. Damit wir sagen könnten: ‚Das sind ja gar nicht wir, die das wollen. Das ist das Volk, das fordert das auch. Und wir stimmen dem Volk zu, wir erfüllen nur seinen Willen.’ Damit wir hier nicht mehr alleine stehen, einsam wie ein Zaunpfahl.“
Die Aufnahme vom 17. Juli 1989 war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Techniker eines Fernsehteams gaben sie jedoch weiter. Der damalige Dissident und spätere tschechische Minister, Alexandr Vondra, spielte die Rede dem Radiosender „Freies Europa“ zu. Ihre Ausstrahlung demonstrierte dem tschechoslowakischen Volk die Hilflosigkeit seiner führenden Politiker. Vier Monate später wurde die Parole „Nechceme kůl v plotě!“ (Wir wollen den Zaunpfahl nicht!) zu einem der Schlagworte der Samtenen Revolution. Am 24. November 1989 trat Milouš Jakeš von seinem Amt als Generalsekretär zurück. Der Zaun, der die Tschechoslowaken über 40 Jahre lang gefangen hielt, war gefallen.