Tschechoslowakischer Ex-Innenminister steht vor Gericht wegen Grenztoten
Am Dienstag beginnt in Prag das Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen kommunistischen Innenminister Vratislav Vajnar. Der heute 92-Jährige ist wegen Amtsmissbrauchs angeklagt. Diesen soll er im Zusammenhang mit mehreren Todesfällen und Körperverletzungen bei Fluchtversuchen an der tschechoslowakischen Staatsgrenze in den 1980er Jahren begangen haben.
In den Westen auszureisen, war in der kommunistischen Tschechoslowakei vor 1989 bis auf Ausnahmen nicht möglich. Jede „Republikflucht“ wurde unter Strafe gestellt. Der sogenannte Eiserne Vorhang, der die Tschechoslowakei von der Bundesrepublik Deutschland und von Österreich trennte, war mehr als 1000 Kilometer lang. Wie die Staatsgrenze in den 1980er Jahren bewacht wurde, erläuterte der Historiker Prokop Tomek in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Die 1980er Jahren waren schon etwas anders als die schlimmste Zeit der 1950er Jahre. Das heißt, es gab an der Staatsgrenze keine Hochspannungszäune und keine Minen mehr. Stattdessen waren dort Grenzzaunbefestigungen angebracht. Das System der Bewachung war bereits sehr gut etabliert, so dass die Zahl der Flüchtlinge niedriger als zuvor war, etwa tausend Menschen pro Jahr. Leute, die emigrieren wollten, nutzten eher eine Urlaubs- oder andere Auslandsreise, falls sie dazu die Möglichkeit bekamen, und blieben dann im Westen. Den Weg über die Grüne Grenze der Tschechoslowakei wählten aber oft die Bürger der DDR. Die innerdeutsche Grenze wurde stärker bewacht, und deshalb schien es ihnen einfacher, über die Tschechoslowakei zu gehen.“
Vratislav Vajnar war von 1983 bis 1988 tschechoslowakischer Innenminister. In der Anklage wird ihm nun vorgeworfen, am Tod von drei Personen, an der Körperverletzung von drei weiteren Personen und an der lebensgefährlichen Bedrohung für eine Person beteiligt gewesen zu sein. Der Historiker Tomek zur Rolle Vajnars dabei:
„Er trug aufgrund seiner Funktion als Innenminister die Verantwortung dafür. Aber eigentlich hat er das System, das schon in den frühen 1950er Jahren geschaffen wurde, nur geerbt. Er hat die Einsätze an der Grenze nicht direkt geleitet, aber die Verantwortung besteht.“
Fast 34 Jahre nach der Wende ist Vajnar der erste kommunistische Funktionär, der sich wegen des brutalen Vorgehens gegen Menschen, die die Grenze überschreiten wollten, vor Gericht verantworten muss. In der Vergangenheit wurde auch gegen den ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch), Miloš Jakeš, und den ehemaligen Premier Lubomír Štrougal ermittelt. Aufgrund ihres Ablebens wurde die Strafverfolgung jedoch eingestellt. Zwei weitere ehemalige kommunistische Spitzenfunktionäre konnten wegen psychischer Erkrankungen nicht angeklagt werden. Warum wurden andere Kommunisten nicht bestraft?
„Die Taten liegen schon lange zurück. Diese Menschen sind entweder nicht mehr am Leben oder bei schlechter Gesundheit. Es ist eine sehr schwierige Frage, warum da nichts passiert ist. In den frühen 1990er Jahren, als die Chancen am größten waren, fehlte der politische Wille. Und dann hat meiner Meinung nach auch die Wahl der Rechtsinstrumente eine Rolle gespielt. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Taten verjährt sind.“
Die Grenze wurde durch Angehörige der militärisch organisierten Grenztruppen bewacht, die die meiste Zeit dem Innenministerium unterstellt waren. Als Grenzsoldaten wurden auch Wehrpflichtige zum Dienst auf 27 Monate verpflichtet. Die Grenzschützer hatten das Recht, bei Fluchtversuchen auch ihre Waffen gegen Personen einzusetzen. Prokop Tomek:
„Einige von ihnen wurden nach der Wende verurteilt. Aber nur in solchen Fällen, wenn sie auch gegen die in den 1980er Jahren geltenden Gesetze verstoßen hatten. Etwa wenn die Straftat auf dem Gebiet eines anderen Staates verübt worden war. Die Gesetzgebung nach 1989 war nicht rückwirkend – das heißt es wurden keine Handlungen bestraft, die nach den zuvor geltenden Gesetzen getan wurden. Diesen Weg ging man zum Beispiel auch in Deutschland: Dort wurden die unmittelbaren Täter mit geringen Strafen belegt. Zugleich wurde aber auch die politische Verantwortung der Spitzenorgane ermittelt.“
Nach Angaben des Prager Gerichts schlägt die Staatsanwaltschaft eine zweijährige Bewährungsstrafe und eine Geldstrafe für Vratislav Vajnar vor.