Kinder in Tschechien - eine bedrohte Art?

Wie die meisten europäischen Länder zeichnet sich auch Tschechien durch eine niedrige Geburtenrate aus. Die tschechischen Zahlen sind jedoch selbst vor dem europäischen Hintergrund alarmierend und spiegeln den rasanten Wandel der Gesellschaft seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes wider. Über Ursachen und Folgen des Geburtenrückganges sprach Thomas Kirschner mit der Leiterin des Institutes für Demographie und Geodemographie der Karlsuniversität Prag, Jitka Rychtaríková.

Vor wenigen Wochen ging es durch die Presse, und auch Radio Prag berichtete: Einige große Geburtskliniken des Landes meldeten eine hohe Auslastung und steigende Geburtenraten. Steht dem Land tatsächlich eine Flut von kleinen Honzíks und süßen Janas bevor? Die Bevölkerungswissenschaftlerin Jitka Rychtaríková von der Karlsuniversität Prag meint, dass sich an solchen Meldungen kaum mehr als die Beliebtheit einzelner Geburtskliniken ablesen lasse, bestenfalls noch ein jahreszeitlicher Trend. Denn die Statistiken sagen seit Jahren das gleiche: Die Tschechen kriegen keine Kinder mehr. Die Wende bei den Geburten kam kurz nach der politischen Wende, Anfang der 90er Jahre. Während die durchschnittliche Tschechin noch in den 80er Jahren 1,9 Kinder bekam, fiel die Geburtenrate in der Mitte der 90er schlagartig. 1995 kamen auf eine Frau nur noch 1,12 Kinder. Zum Vergleich: selbst im traditionell geburtenarmen Deutschland bekommt jede Frau im Durchschnitt immerhin noch 1,4 Kinder. Tschechien ist damit nach der Ukraine das geburtenschwächste Land der Welt. Auch wenn die Kurve in den letzten Jahren wieder etwas nach oben zeigt - Grund zur Entwarnung gibt es keinen, erklärt die Demographin Jitka Rychtaríková:

"Man muss sich klar machen, dass die Frauen heute im Schnitt älter sind, wenn sie ihre Kinder bekommen -wenn es also heute aussieht, also ob ein paar Kinder mehr geboren werden, dann kommt das teilweise von diesen älteren Frauen, die aber vorher noch keine Kinder bekommen haben. Aus der Sicht der Demographen ist es aber auch ganz egal, ob heute ein- oder zweitausend Kinder mehr geboren werden, denn vorher gab es etwa 130 000 Geburten im Jahr und heute nur 90 000. Und es gibt derzeit keine Anzeichen für eine grundlegende Änderung."

Wenn sich tatsächlich nichts ändert, dann gehören die Tschechen zu den aussterbenden Völkern. Bei der derzeitigen Geburtenrate würde das heutige 10- Millionen-Volk in 300 Jahren auf einen kümmerlichen Rest von rund 62 000 Menschen zusammengeschmolzen sein. Doch man muss nicht auf fiktive Modellrechnungen zurückgreifen: die Auswirkungen des Geburtenmangels sind universal und werden bereits heute sichtbar - in Deutschland genauso wie in Tschechien. Die Alterspyramide verschiebt sich, immer weniger junge, arbeitende Menschen stehen einer immer größeren Zahl von Rentnern gegenüber, das herkömmlich Sozialversicherungssystem kollabiert. Doch die Folgen seien noch viel breiter zu sehen, so Jitka Rychtaríková:

"Es gibt bereits Erfahrungen beispielsweise aus Deutschland, die zeigen: wo keine Familien mit Kindern sind, da sind auch keine Verbraucher. Es kann dazu kommen, dass ganze Regionen verfallen, es wird niemanden mehr geben, der in die Wohnungen einziehen will und der Dienstleistungssektor und die Geschäfte werden verkümmern. Es geht also nicht nur um demographische Trends, sondern es geht um die Entwicklung der gesamten Gesellschaft, denn alles hängt mit allem zusammen."

Der Kern des Problems könnte aber letztlich auf einer ganz anderen Ebene liegen. Wenn es mehr alte Menschen gibt, werden diese auch einen immer stärkere gesellschaftliche und politische Macht erhalten -

"im Englischen gibt es dafür bereits den Ausdruck "grey power". Und diese Kraft wird sich dann immer mehr gegen Innovationen stellen und gegen bestimmte Entwicklungen."

Neue Ideen und Lösungen könnten es unter diesen Umständen in der Gesellschaft also noch schwerer haben als ohnehin - obwohl gerade sie gebraucht werden, um dem Strukturwandel der Gesellschaft zu begegnen.

Die Ursachen für die rückgängigen Geburtenzahlen sind vielfältig. Die Tschechen heiraten später als noch vor einigen Jahrzehnten, wo nur Ehepaare die Chance hatten, eine eigene Wohnung zu bekommen. Man legt mehr Wert auf Ausbildung und die eigene Karriere und überhaupt sind nach dem Ende des Sozialismus die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung vielfältiger geworden. Dennoch: Umfragen bestätigen, dass sich das Idealbild der Familie nicht verändert hat. Die meisten Tschechen hätten am liebsten zwei Kinder. Was also hält sie davon ab?

"Natürlich gibt es heute viele Möglichkeiten, die es früher nicht gab. Aber wenn wir die Situation der kinderlosen Familien vergleichen mit den Familien, die Kinder haben, dann zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen ihnen immer größer werden. Und das ist ein Grund, warum die Menschen sich mit dem Kinderkriegen zurückhalten. Ein weiterer Grund liegt in der ökonomischen Transformation und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der allgemeinen Unsicherheit. Für die Tschechen ist das eine völlig neue Erfahrung, im Gegensatz etwa zu den Westeuropäern, die daran schon lange gewöhnt sind.

Anders gesagt: Auch in Tschechien sind Kinder zum Kostenfaktor geworden, und die Entscheidung für das zweite Kind bedeutet für viele Familien nicht nur eine mäßige zusätzliche Belastung, sondern den Zwang zu massiven Einschränkungen. Unter dem sozialistischen Regime war das, wenn auch unter ideologischem Vorzeichen, anders. Familien waren abgesichert, es gab genügend Krippenplätze, sodass Kinder und Beruf vereinbar waren. Und um eine größere staatliche Regulierung und Unterstützung komme man auch nicht herum, wenn der gegenwärtige Geburtentrend wieder umgekehrt werden soll, so die Bevölkerungswissenschaftlerin Jitka Rychtaríková.

"In der Situation Tschechiens, wo die Geburtenrate langfristig extrem niedrig ist, könnten wir uns zumindest teilweise ein Beispiel an den Vereinigten Staaten nehmen, wo es eine Art "positive Diskriminierung" gibt und die Familien mit Kindern gegenüber den kinderlosen Paaren finanziell besser gestellt werden. Denn der Aufwand - nicht nur der finanzielle, sondern auch der emotionale - lässt sich nie ausgleichen. Zum anderen müssen wir auch ein Umfeld schaffen, das kinderfreundlicher ist. Das ist sicher auch eine Frage des Denkens und der Kultur, die Familien zu unterstützen. In der Vergangenheit hat es das gegeben, auch wenn das natürlich ideologisch war. Dennoch: das Wohlstandsgefälle zwischen Familien mit und ohne Kindern war damals sehr klein."

Sind Kinder also wirklich inzwischen eine bedrohte Art? Eines scheint klar zu sein: damit sich die Gesellschaft nicht selbst ihre Grundlage entzieht, müssen Kinder wieder eine höhere Priorität erhalten. In der staatlichen Förderung genauso wie im Leben jedes Einzelnen. Welche Konsequenzen aber hat die Bevölkerungswissenschaftlerin für sich selbst gezogen? Lachend hebt Jitka Rychtarikova die Hände:

"Darauf antworte ich ganz ungern. Ich habe eine Tochter. Ich sage immer im Spaß, für die Reproduktion reicht es, dass die Tochter die Mutter ersetzt. Also etwas demagogisch könnte man sagen: Ich bin ersetzt. Allerdings lebt meine Tochter in den Vereinigten Staaten - für Tschechien bin ich also verloren."