„Korrekte Beziehungen, aber keine Freundschaft“ – Tschechoslowakei und Österreich 1918 - 1933

„Unausgewogene Beziehungen“ (Foto: Verlag der tschechischen Akademie der Wissenschaften)

Im Oktober 1918 zerfällt das Kaiserreich Österreich-Ungarn. Aus seiner Erbmasse gehen eine Fülle neuer Staaten hervor, unter anderem die neue Tschechoslowakei und die Republik Österreich. Der Historiker Ota Konrád hat nun eine Studie zu den Beziehungen dieser beiden damals neuen Staaten vorgelegt. Das Buch hat er im Österreichischen Kulturforum in Prag vorgestellt und dabei auch Radio Prag Rede und Antwort gestanden.

„Unausgewogene Beziehungen“  (Foto: Verlag der tschechischen Akademie der Wissenschaften)
Herr Konrád, Ihr neues Buch heißt „Unausgewogene Beziehungen“. Es geht um die Beziehung zwischen der Tschechoslowakei und der Republik Österreich in den Jahren 1918 bis 1933. Beides waren neu entstandene Staaten, die aus dem Kaiserreich Österreich-Ungarn hervorgegangen sind. Warum glauben Sie, musste so ein Buch geschrieben werden?

„Der Hauptgrund war, dass es in Tschechien und Österreich keine Monografie zu dem Thema gab. Eine Gesamtdarstellung des Themas war der erste Beweggrund. Darüber hinaus schien mir das Thema sehr spannend und interessant. Gerade bei Staaten, die aus einem gemeinsamen Staat hervorgegangen sind, entsteht die Frage, wie sich diese Staaten einander gegenüber verhalten, ob auch Reminiszenzen an die gemeinsame Geschichte eine Rolle spielen. Es war ein Bündel verschiedener Motive. Am wichtigsten war aber zweifellos diese forschungsstrategische Erwägung: Das Thema ist bisher nicht in einem Buch verarbeitet.“

Sie charakterisieren die Beziehungen als „unausgewogen“ – auf welcher Ebene waren sie unausgewogen?

Das Ende Österreich-Ungarns nach den Pariser Vorortverträgen | Foto: AlphaCentauri,  Wikimedia Commons,  CC BY 3.0
„Es gab ganz unterschiedliche Identitäten in beiden Ländern. Einerseits gab es bei der tschechischen politischen Elite eine ziemlich klare und seit langem bestehende Staats- beziehungsweise Nationalidentität. Die Forderung war, dass die Tschechen einen selbstständigen Staat errichten. Es bestanden auch ziemlich klare Vorstellungen über den Umfang und die Grenzen des Staates und über die geschichtliche Legitimation. So etwas Ähnliches gab es im österreichischen Fall nicht. Es wurden viele Diskussionen geführt, ob man überhaupt einen selbstständigen Staat gründen sollte. Man hoffte noch im Oktober 1918 auf Reformen der Habsburger Monarchie oder auf einen mitteleuropäischen Bund im Rahmen der ehemaligen Monarchie. Nach dem Vertrag von Saint-Germain wurden die Grenzen im österreichischen Fall ganz anders gezogen, und es entstand ein großes Problem der Staatsidentität. Das kann man auch für alle anderen Ebenen sagen, für die Ebene des Machtpotentials in den beiden Staaten zum Beispiel. Die Tschechoslowakei versuchte mindestens in Mittelosteuropa eine starke Rolle zu spielen, auf der anderen Seite war die österreichische politische Elite ziemlich beschränkt. Es gab dort die Vorstellung ‚man sei ein kleiner Staat, habe wenig Macht und könne keine Machtpolitik machen.’ Das hängt nicht nur mit den objektiven Gegebenheiten zusammen, sondern auch mit der subjektiven Wahrnehmung des Staates.“

Gebietsstand der Republik aufgrund des Gesetzes der provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs vom 22.11.1918  (Quelle: Wikimedia Commons Free Domain)
Was waren die größten Konflikte, und wobei hat man sich besonders gut verstanden?

„Zum größten Konflikt kam es gleich am Anfang. Dabei ging es um die deutsch besiedelten Gebiete der böhmischen Länder, also die Provinzen Deutsch-Böhmen und das Sudetenland in Südmähren und Südböhmen. Im Vergleich zu den Konflikten im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach war dies ein ziemlich ruhiger Konflikt. Nach der Erfahrung des Massensterbens im Ersten Weltkrieg gab es wenig Bereitschaft, aber auch wenige geistige, finanzielle oder materielle Ressourcen, um einen heißen Konflikt zu führen. Der Konflikt fand eher zwischen den politischen Eliten, in den Dokumenten und in verschiedenen Protestnoten statt, ohne echte, physische Auseinandersetzungen. Zum Beispiel verlief die Besetzung der deutsch besiedelten Gebiete Böhmens und Mährens seit Dezember 1918 durch die tschechoslowakische Armee oftmals ziemlich ruhig. Gerade nach dem Ende des Weltkrieges wollte niemand wieder mit der Waffe in der Hand kämpfen und sterben. Zur Frage, wo man sich am besten verstanden hat: Es gab zweifellos sehr gute Beziehungen im Wirtschaftsbereich. Österreich war für die Tschechoslowakei mindestens bis Ende der 20er Jahre einer der wichtigste Handelspartner und umgekehrt. Es gab auch sehr viele Kontakte auf der Alltagsebene, zum Beispiel im Fremdenverkehr und in der Kultur. Man sollte nicht vergessen, dass Brünn eine deutsche Stadt war. Südmähren war vor allem von Deutschen bewohnt, und darum waren diese Gebiete von Wien traditionell stark im Kulturbereich beeinflusst. Auf vielen Ebenen gab es gute Kontakte. Auf der Ebene der politischen Elite bestanden, würde ich sagen, korrekte, nachbarschaftliche Beziehungen, aber keine echte Freundschaft.“

Ota Konrád  (Foto: Facebook des Österreichischen Kulturforums)
Wie sind Sie an das Projekt herangegangen? Haben Sie auch andere Aspekte als die politischen herangezogen?

„Ich habe versucht, nicht nur über die politische Geschichte zu schreiben. Eine pure Beschreibung des Themas würde nicht viel Neues bringen. Daher habe ich versucht, gerade Aspekte wie die mentale Welt der Politiker, die unterschiedliche Wahrnehmung der Identität und, im österreichischen Fall, die Probleme mit der Identität zu berücksichtigen. Mir geht es nicht nur um die Beschreibung des Themas, sondern um die Fragen auf der subjektiven Ebene: Was hat die Entscheidungen beeinflussen können? Welche mentalen Prägungen waren für die Politiker wichtig? Ich wollte auch wissen, wie die Politiker informiert waren und welche Qualität die Informationen hatten, mit denen sie arbeiteten. Das sind die mentalen und strukturellen Bedingungen, die ich in meiner Darstellung ansprechen wollte.“

Wer sind die Hauptprotagonisten – auf tschechoslowakischer Seite doch sicher Außenminister Beneš. Wie war seine Haltung zu Österreich?

Edvard Beneš  (Foto: František Janda,  Creative Commons 3.0
„Die Haltung von Beneš zu Österreich war ambivalent. Einerseits war Österreich für ihn ein Inbegriff dessen, was dieser neue tschechoslowakische Staat nicht will. Die Habsburgermonarchie war in seinen Augen ein Gegenpol zur modernen, demokratischen Tschechoslowakei. Zweifellos deuteten die Reminiszenzen auf seine Lebenserfahrungen in Österreich. Andererseits war Beneš überzeugt, dass die selbstständige Existenz der Republik Österreich für die Tschechoslowakei von größter Wichtigkeit ist. Das zeigte sich in der Hilfe des Völkerbundes für Österreich bei der Gewährung einer Anleihe: Die Tschechoslowakei war neben Frankreich, Italien und Großbritannien einer der Hauptprotagonisten dieser finanziellen Hilfe für Österreich. Österreich zu halten und daraus einen lebensfähigen Staat werden zu lassen, war definitiv das Interesse von Beneš.“

Das Buch ist jetzt nur auf Tschechisch erschienen. Wird es eine deutsche Übersetzung geben?

„Das wäre mein Ziel. Das Buch könnte auch für die deutsche oder österreichische Leserschaft interessant sein.“


Das Buch „Nevyvážené vztahy - Československo a Rakousko 1918-1933“ ist im August 2012 im Verlag der tschechischen Akademie der Wissenschaften erschienen.