Österreich – Tschechoslowakei: die tödlichste Grenze Europas im Kalten Krieg

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Am 17. November 1989 protestierten die Studenten in Prag. Es war der Anfang vom Ende des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei. Mit dem Zusammenbruch des Regimes verschwand auch die scharf bewachte Grenze zu Österreich. An dieser Grenze kamen sogar weitaus mehr Menschen zu Tode, als an der innerdeutschen Trennlinie. Das haben Wissenschaftler im Rahmen eines Projekts zur Erforschung der Tätigkeit des tschechoslowakischen Nachrichtendienstes in Österreich festgestellt. Der Grazer Historiker Stefan Karner ist Autor der frisch erschienen Studie. Im Interview für Radio Prag spricht er über die Ergebnisse.

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Herr Professor Karner, Sie haben am Montag Ihr neues Buch „Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang“ vorgestellt. Es geht um die Grenze zwischen der kommunistischen Tschechoslowakei und Österreich. Die Ereignisse an der österreichisch-tschechischen Grenze sind im deutschsprachigen Raum nicht so bekannt, man spricht ja viel häufiger über das Geschehen an der innerdeutschen Grenze. Was sind die gravierendsten Unterschiede zwischen den beiden Grenzen?

„Die österreichisch-tschechoslowakische Grenze, damals ein Teil des Eisernen Vorhangs, ist nur etwa ein Drittel so lang wie die innerdeutsche Grenze. Sie ist 453 Kilometer lang, und das Frappierendste ist: An dieser österreichisch-tschechoslowakischen Grenze sind mehr Tote zu verzeichnen als an der innerdeutschen Grenze, obwohl sie viel kürzer ist. Besonders haben wir uns mit den Flüchtlingen beschäftigt. Dabei haben wir an der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze fast so viele Tote wie an der Berliner Mauer gezählt. Beides hat uns überrascht, mit beidem haben wir nicht gerechnet.“

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Um wie viele Tote hat es sich da gehandelt?

„Wir haben über 600 Tote bei den Grenzorganen, den Grenzsoldaten, festgestellt. Das ist viel mehr als an der innerdeutschen Grenze. Daneben sind 129 Flüchtlinge ums Leben gekommen, gegenüber 137 Flüchtlingstoten an der Berliner Mauer.“

Sie sagen, dass viele Grenzsoldaten umgekommen sind. Wie kam das?

„Das war für uns völlig überraschend, und wir haben noch keine Motivforschung durchgeführt. Wir haben also nicht wirklich wissenschaftlich gefragt, warum. Daher sind wir auf Hinweise angewiesen und können nur vorsichtig argumentieren: Wir glauben, dass der sehr breite Grenzstreifen mit einer Tiefe von bis zu zwölf Kilometern hier eine Rolle gespielt hat. Vor allem, weil ein Grenzer auf einem so breiten Streifen einen Flüchtenden natürlich viel länger beobachtet hat, als an einer Grenze, die nur wenige Meter breit oder auf eine Todeszone beschränkt ist. Das heißt, ein Soldat hat einen Flüchtenden oft stundenlang, manchmal bis zu zwei Tage lang beobachtet und musste dann entscheiden: Erschieße ich den oder nicht? Erschieße ich ein 19-jähriges Mädchen, erschieße ich eine Frau mit Kind, die ich beobachte, wie sie langsam in Richtung Grenze schleicht - oder mache ich das nicht? Wenn man weiß, wie schwierig es schon ist, ein Stück Wild zu erschießen, das friedlich äst, dann kann man sich vorstellen, wie schwierig es psychisch ist, einen Menschen zu erschießen, mit dem man ja dann auch Kontakt aufgenommen hat, zumindest durch das Fernglas. Das ist der erste Punkt.

Grenzsoldat  (Rudolf Fuksa). Foto: Archiv von Jindřich Šnýdl,  Institut für das Studium totalitärer Regime
Zweitens glaube ich, dass die Tschechoslowakei eher Menschen an die Grenze geschickt hat, die ideologisch nicht so straff ausgebildet waren, wie jene der DDR an der innerdeutschen Grenze. Daher hat es hier wahrscheinlich mehr Grenzer gegeben, die im Zweifelsfall menschlich reagiert haben, dadurch aber Probleme mit den Behörden bekommen haben beziehungsweise in einen Gewissenskonflikt geraten sind. Von den über 600 Toten sind zunächst einmal viele durch Minen umgekommen und durch den geladenen Stacheldraht. Dann haben wir relativ viele dokumentierte Selbstmorde festgestellt und sogar gegenseitige Erschießungen von Grenzern. Das sind alles Indizien dafür, dass der Einsatz an dieser Grenze die Menschen überfordert hat, und zwar psychisch. Das hat uns völlig überrascht, damit haben wir nicht gerechnet.“

Gibt es dafür Beispiele?

„In den Akten ist das nicht so genau ausgeführt, aber es gab beispielsweise junge Grenzsoldaten, zwischen 25 und 30 Jahre alt, die den Selbstmord gewählt haben, weil sie hier an der Grenze nicht weiter Dienst schieben wollten. Man muss dazu sagen, dass die Tschechoslowakei am Anfang normale Rekruten eingesetzt hat. Später wurde aus dieser Grenzbewachungseinheit eine eigene, militärisch besser geschulte Einheit, die 20.000 Mann umfasste. An der Grenze selbst standen in den kritischen Phasen bis zu 5000 Mann stündlich, man kann also sagen, dass sie sehr dicht überwacht worden ist.“

Grenzzone  (Foto: Ladislav Šafránek,  Wikimedia Free Domain)
Wer ist diesem Grenzstreifen noch zum Opfer gefallen?

„Wir wissen nur aus verschiedenen Meldungen, dass auch einfache Zivilbevölkerung hier oder dort in schwierige Situationen gekommen ist. Menschen sind irgendwo auf eine Mine gefahren oder zwischen die Fronten geraten, aber dazu haben wir keine Unterlagen des tschechoslowakischen Geheimdienstes gefunden, wir wissen dies nur aus Hinweisen, dass so etwas vorgefallen sei. Man muss aber dazu sagen, dass in diesem breiten Grenzstreifen keine autochthone Bevölkerung mehr lebte, die Menschen waren umgesiedelt worden. Man hat dann in dieser breiten Grenzzone völlig andere Menschen angesiedelt, damit sie keinerlei verwandtschaftliche oder andere Beziehungen über die Grenze, über den Eisernen Vorhang hinaus hatten. Es war ja vielfach möglich, über diesen Eisernen Vorhang drüber zu sehen. Die Freiheit schien so nah, war aber in Wahrheit weit weg.“

March  (Foto: Vladimír Tóth,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Betrachten wir es mal geografisch, wo passierten die meisten Zwischenfälle, gab es einen besonders beliebten Ort für Flüchtlinge?

„Geografisch betrachtet, gab es für die Flüchtlinge, sozusagen Schlepperrouten. Diese Routen verliefen natürlich über unwegsames Gelände und führten durch Gegenden, von denen man annahm, dass sie nicht so stark überwacht wurden. Diese Routen haben sich aber nahezu jedes Jahr geändert. Es lässt sich aber trotzdem sagen, wo sich die meisten Routen befanden: im Gebiet zwischen Bratislava und Gmünd, das heißt an der March und der Thaya, und ein wenig auch im Mühlviertel und im Böhmerwald. Hauptsächlich aber an der March und Thaya existierte vermutlich die Hoffnung, dass man dort leichter über die Grenze kam, beziehungsweise dass die Grenze dort schwerer zu überwachen war.“

Quelle: EuroGeographics 2001,  ÖIR-Informationsdienste
Sie haben für das Buch Zugriff auf Akten der ehemaligen tschechischen Staatssicherheit gehabt, dem StB. Haben Sie auch mit tschechischen Kollegen zusammengearbeitet?

„Wir haben von Anfang an mit den tschechischen und später auch mit den slowakischen Kollegen zusammengearbeitet. Die Tschechen waren es ja, die zu uns gekommen sind und gesagt haben, dass sie das Archiv des tschechoslowakischen Geheimdienstes aufmachen und gemeinsam etwas machen wollen. Wir haben inzwischen 12.000 Akten über Österreicher gefunden, die in irgendeiner Weise für den tschechoslowakischen Geheimdienst interessant gewesen sind, das ist eine enorme Zahl. In jeder dieser Akten, die ja zum Teil 800 bis 900 Seiten dick sind, finden sich noch mehr Menschen. Das bedeutet, dass der tschechoslowakische Geheimdienst das österreichische Gebiet sehr gut beobachtet hat.“

Stefan Karner  (Foto: YouTube)
Wird es auch eine tschechische Version des Buchs geben?

„Das ist im Moment noch keine Option, ich würde mich aber sehr darüber freuen. Vom 10. bis 12. Dezember wird es noch eine Tagung in Telč zu Fragen der geheimdienstlichen Operationen der tschechoslowakischen StB in Österreich geben. Und bei dieser Tagung werden wir mit den Tschechen besprechen, ob es noch eine tschechische Version des Buches geben wird. Ich hoffe es sehr.“


Das Buch „Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang – Die Verschlussakten.“ ist im Verlag Ecowin erschienen.