Tschechien und Österreich im langen 20. Jahrhundert
Tschechisch-österreichische Transfer- und Verflechtungsgeschichten im langen 20. Jahrhundert waren das Thema einer Konferenz, die an diesem Montag und Dienstag im Österreichischen Kulturforum in Prag veranstaltet wurde. Der Anlass war das Gedenkjahr 1918. Im Blickpunkt standen die politischen und kulturellen Transfers um das Jahr 1900 sowie zwischen den Jahren 1918 und 1938. Die Konferenz haben die Historiker Jiří Pešek von der Prager Karlsuniversität und Oliver Rathtkolb gemeinsam koordiniert. Während des ersten Tags der Tagung hat Radio Prag mit den beiden Geschichtsprofessoren gesprochen.
Rathkolb: „Der erste Schwerpunkt der Tagung geht in den Bereich Kultur und Kunst. Wir haben versucht, am Beispiel der Architektur- und der Filmgeschichte uns anzusehen, wie sich die Moderne in Prag und in Wien entwickelte und wie diese Entwicklung nach 1918 weiter geht. Es ist ganz spannend. Das erste Ergebnis: Es gibt eine regional unterschiedlich transformierte Moderne, die aber auf denselben Wurzeln basiert, sich aber aus einer Reihe von Gründen beispielsweise in Prag in Richtung Kubismus entfaltet im Unterschied zu Wien, wo eher die Sezession und die Nachfolger dominieren. Das ist das Spannende an der Konferenz, aus dem gemeinsamen Kulturraum auszugehen und zu schauen, wie sich die Dinge nach 1918 auseinander differenzieren und wieder zusammenkommen. Wie der Beitrag zur Filmgeschichte gezeigt hat, sind die kulturellen Verflechtungen nach 1918 noch eng gewesen und dies galt bis in den Zweiten Weltkrieg hinein.“
Was ist das Ziel des Studiums dieser Gemeinsamkeiten, der Verflechtungen?Pešek: „Die Böhmischen Länder und die Alpenländer waren immer sehr stark miteinander verbunden. Es scheint, dass das alles nach 1918 enden sollte und umso mehr insbesondere nach 1945. Wir sehen jedoch - und darum arbeiten wir mit Oliver Rathkolb seit 25 oder fast 30 Jahren eng zusammen - dass diese Beziehungen und die Wichtigkeit der Rolle der Nachbarschaft die gleiche Rolle haben wie früher, es gab nur bestimmte Zäsuren und Hindernisse, um die Zusammenarbeit weiter entwickeln zu können. Unsere Forschungsarbeit und unsere Lehrtätigkeit zielen darauf, die Leute darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig die Nachbarn sind. Wir haben ein gemeinsames großes Erbe, das wir inzwischen teilweise vergessen haben. Dies ist etwas, was gerade in der heutigen chaotischen Welt von Bedeutung ist. Denn Europa ist eine kleine Halbinsel im Westen Asiens, und Mitteleuropa ist nur ein Bezirk in Europa. Wir haben mit unseren Nachbarn aus Österreich eine sehr ähnliche Mentalität, ähnliche Erfahrungen, Sprachwendungen usw. Unsere Kooperation wird produktiver, wenn wir über unsere Gemeinsamkeiten mehr wissen. Denn die Tschechen wissen heute über Österreich nicht viel.“
In wie weit sind die Gemeinsamkeiten, die Verflechtungen unter der österreichischen Öffentlichkeit bekannt?Rathkolb: „Ich glaube, dass auch in Österreich heute viel zu wenig bekannt ist über die gemeinsame, sehr intensive kulturelle, ökonomische, politische Verflechtung von 1918 und auch noch in der Zwischenkriegszeit. Ich nenne ein Beispiel: Der erste tschechoslowakische Staatspräsident Tomáš Masaryk war gleichzeitig Dozent der Universität Wien. Wenn ich eine Umfrage unter den Wiener Studenten machen würde, ob sie das wissen, befürchte ich, dass nur ganz wenige dieses wichtige historische und politische Faktum kennen würden. Wenn wir uns gemeinsam besser in der europäischen Integration und in der Globalisierung koordinieren möchten, brauchen wir auch eine stärkere Reflexion über unsere historische Basis, über die Gründe für unsere andere Entwicklung. Beispielsweise der Kalte Krieg ist etwas, was unter den Studierenden der Universität Wien wie ausgelöscht ist. Aber es ist ein wichtiger Faktor, um die Entwicklung in der Tschechoslowakei und in der Tschechischen Republik sowie in Österreich besser einschätzen zu können. Nur wer eine fundierte historische Basis hat und auch über die Kulturgeschichte der Vergangenheit mindestens des 19. und 20. Jahrhunderts Bescheid weiß, kann sich auch in dieser verrückten turbulenten Globalisierung besser bewegen und orientieren.“
Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass die Zeit des Kalten Kriegs, wie Sie sagten, unter den Studenten „ausgelöscht“ wurde?Rothkolb: „Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass die österreichische Schulgeschichte irgendwo im Zweiten Weltkrieg, im Nationalsozialismus stecken geblieben ist. Es ist gut, dass man sich mit dieser Zeit und der Mittäterschaft der Österreicher intensiv auseinandersetzt. Aber jetzt ist es auch wichtig, dass man die Jahrzehnte nach 1945 zum Bestandteil des Geschichtsunterrichts macht. Denn nur dann werden bestimmte Entwicklungen im politischen und ökonomischen Bereich in Zentral- und Osteuropa verständlich.“
Herr Professor Pešek, wie sieht es im Bereich Geschichtsunterricht – an den Gymnasien und Hauptschulen hierzulande aus? Es ist bekannt, dass die Schüler die Geschichte oft nur bis zum Zweiten Weltkrieg lernen. Ist es wegen Zeitmangel oder mangelt es eher an der Lust?
Pešek: „Ich befürchte, es gibt keine Lust dazu, weil die Leute auch wenig darüber wissen. Dabei ist es das Wichtigste, um unsere heutige Lage zu verstehen. Ich halte zudem für wichtig, dass die jungen Menschen mehr über die Geschichte unserer Nachbarländer, in diesem Fall von Österreich wissen. Während der Tagung war gerade über Masaryk die Rede. Wir werden auch über Bruno Kreisky reden. Er war ein Politiker, der sich immer für die tschechoslowakische Politik kritisch interessiert hat. Auch über Karel Schwarzenberg werden wir sprechen. Er war der erste Leiter der Präsidentenkanzlei von Václav Havel und später ist er zu einem wichtigen Politiker geworden, der versuchte, das Beste von der politischen Kultur hierzulande zu etablieren. Dies wäre ohne seine österreichischen Erfahrungen nicht möglich gewesen. Wir möchten der Öffentlichkeit vermitteln, dass sie Österreich als Bestandteil unserer Identität versteht. Es geht nicht darum, sich zu Sissi oder zum Kaiser zu bekennen, sondern darum, dass wir unsere Nachbarn wirklich als Nachbarn wahrnehmen und über die Möglichkeiten, die aus der Nachbarschaft folgen, produktiv nachdenken.“Rathkolb: „Ich möchte noch etwas hinzufügen, was aus dem spezifisch Wiener Geschichtsverständnis wichtig ist. Wien war vor 1918 die zweitgrößte tschechisch sprechende Stadt mit einem unglaublich pulsierenden Kulturleben, mit einer ganz wesentlichen Arbeiterschaft für die Industrialisierung des Habsburger Reichs und Wiens. Ich bin davon überzeugt, dass man sich heute dieser Wurzeln bewusst werden muss. Wenn man heute das Telefonbuch in Wien aufschlägt, ist es voll mit tschechischen Namen. Aber die Selbstreflexion, woher kommen die Groß- und Urgroßeltern, über die Migration aus Böhmen und aus Mähren mehr zu wissen, das würde, glaube ich, der aktuellen Wiener Debatte ganz gut tun und auch die große Aufregung in der Migrationsfrage vielleicht etwas niederhalten. Insofern ist Geschichte nicht nur Beschäftigung mit Vergangenheit von ein paar versponnenen Historikern, sondern sie ist auch Reflexion über die Gegenwart und die Zukunft.“