Kralupy nad Vltavou und Jaroslav Seifert

Kralupy nad Vltavou im 30. Jahren 20. Jh.

Die Zeit der Weihnachtsbescherung ist vorbei, doch trotzdem haben wir für Sie in der heutigen Touristensprechstunde eine Überraschung vorbereitet: Wir starten nämlich im Rahmen dieser Sendereihe eine neue Serie, die mit einem Quiz für Sie verbunden ist. Jeweils in der ersten Touristensprechstunde des Monats stellen wir eine Quizfrage und verlosen unter denjenigen Hörern, die sie richtig beantworten, ein kleines Präsent. Der rote Faden, der sich durch die einzelnen Folgen ziehen wird, ist die Literatur. Unsere neue Serie heißt "Literarische Wanderungen durch Tschechien" und will über Orte erzählen, die mit interessanten Literaten und deren Werken verbunden sind. In der ersten dieser Wanderungen besuchen Sie gemeinsam mit Markéta Maurová und Gerald Schubert die mittelböhmische Stadt Kralupy nad Vltavou.

Kralupy nad Vltavou. Was kann man heute über diese Stadt lesen und hören? In der jüngsten Zeit machte sie in einem ziemlich entsetzlichen Zusammenhang von sich reden - es handelte sich um eine der vom Hochwasser des letzten Jahres am schlimmsten betroffenen tschechischen Städte. Des weiteren sind die dortigen Chemiewerke bekannt, und Kralupy spielt auch als ein Eisenbahnknoten eine große Bedeutung. Aus historischer, kunst-historischer bzw. kultureller Hinsicht ist die Stadt nicht gerade im Übermaß bedacht worden. Aber doch hat jemand dazu beigetragen, dass Kralupy auch in diesem Kontext Erwähnung verdient: der Dichter und Nobelpreisträger Jaroslav Seifert. Er wurde zwar in Prag geboren, fühlte jedoch eine enge Beziehung zu Kralupy und fand dort 1986 seine letzte Ruhestätte. Mehr erzählte mir während meines Besuchs in Kralupy Jan Racek, der Direktor des dortigen Stadtmuseums:

"Aus dieser Stadt stammte Seiferts Mutter und es lebte hier daher die Familie seiner Mutter. Eine besondere Erwähnung verdient Seiferts Großvater Antonin Boruta, der einen großen Einfluss auf den Werdegang Seiferts als junger Mann hatte. Gerade er hat ihn an tschechischen Literatur herangeführt, zu den Traditionen, zu Halek, Vrchlicky. Gerade er lehrte ihn, hier in der Umgebung von Kralupy, die böhmische Landschaft zu lieben. Man kann eigentlich sagen, dass es ihm zu verdanken ist, dass Jaroslav Seifert begann zu schaffen und er es ganz nach oben gebracht hat, auf den Gipfel, bis zum Nobelpreis."

Das beste und überzeugendste Zeugnis über seine Beziehung zu Kralupy und zu seinem Großvater bietet uns der Dichter selbst. Wir lesen aus seinem Memoirenbuch "Alle Schönheiten der Welt".

"Nach Kralupy fuhr ich gern; auf diese Reisen freute ich mich ungemein. Die Reise in die Ferien wurde am meisten ersehnt. Die Reise zu Weihnachten war von heiligem Zauber, die zu Ostern von Freude erfüllt. .... und schon war ich auf dem Bahnhof von Kralupy und stürzte in die ausgebreiteten Arme meines Großvaters mütterlicherseits. Erst nach Jahren begriff ich, daß er für mich das war, was für Bozena Nemcova ihre Großmutter gewesen war. Aber ich brauche nicht viel zu beschönigen. Könnte ich doch den Menschen so viel Schönes geben, wie Großvater mir gab, wenn wir stundenlang durch die Gegend von Kralupy wanderten. Zuerst den T"ebízský. Dann Hálek aus dem nahe gelegenen Dolínek und schließlich die Liebe zur Poesie. Wie unzeitgemäß und unmodern das alles heute klingt! Doch von diesen lebenspendenden Erinnerungen habe ich mein Leben lang gezehrt. Und nicht zu vergessen: die Liebe zu den Bäumen. Großvater war Bibliothekar in der damals kümmerlichen Stadtbibliothek und zugleich ein führendes Mitglied des Verschönerungsvereins von Kralupy. Wie altertümlich das heute klingt, manch einer wird gar nicht wissen, was das war. Mit Hilfe von bezahlten Arbeiterinnen wurden in der Stadt und auch in der näheren Umgebung Sträucher und Bäume gepflanzt."

Kralupy nad Vltavou  (Foto: Miloš Turek)
Noch vor einigen Jahren stand hier eine weiße Pappel, die Jaroslav Seifert und sein Großvater mal eingepflanzt hatten. Diese befand sich bei der Allee an der Brücke. Sie war jedoch schon alt und fiel einem Sturm zu Opfer. Auch nach weiteren Seifert-Lokalitäten würde man leider heute schwer suchen.

"Keiner dieser Orte, die einen direkten Bezug zur Familie von Antonin Boruta, Seiferts Großvaters haben, existiert leider mehr. Die Boruta-Familie wechselte zweimal ihren Wohnort in Kralupy. Eines der Häuser wurde während des Luftangriffs auf die Stadt im Jahre 1945 zerstört. Und das zweite bei der Assanierung in der Friedenszeit, die wohl noch wesentlich schlimmere Folgen als der Luftangriff hatte, d.h. in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Damals wurde die alte Stadtbebauung liquidiert und Plattenbaustadtviertel für Arbeiter aus den hiesigen großen Chemieunternehmen gebaut. Dadurch hat sich das vergangene Regime nicht nur gegenüber dem Dichter selbst, sondern auch seiner Familie und indirekten Zeugen seiner Existenz symbolisch unterschrieben. "

Der Industrie verdankt Kralupy seine Vernichtung durch Plattenbauten, aber auch seine Entstehung und Entwicklung. Davon erzählt uns in seinen Erinnerungen auch Jaroslav Seifert.

"Kralupy an der Moldau, heute fast eine Industrievorstadt unserer Hauptstadt, war schon vor einem halben Jahrhundert eine Stadt der Fabriken und Betriebe. Gegen Abend drangen Rauch und Gestank in ihre Straßen. Die Einwohner schlossen rasch die Fenster. Am meisten stank es aus den Schloten der Erdölraffinerie. Der "Petrolejka"! Anders nannte sie keiner. Manchmal hüllten ihre Rachwolken die ganze Stadt ein. Es gab auch andere Fabriken, die die Luft der Stadt vergifteten. Die Fabrik für Maggi-Suppenwürze, das Chemiewerk gleich am Bahnhof. ... Es gab ferner eine Schnapsbrennerei, Zuckerfabriken, eine Bierbrauerei, eine Gerberei und weiß Gott was noch. Die Dampfmühle neben der Knabenschule gehörte den Eltern des Malers Kars, den ich dort mitunter sah. Der Maler Utrillo malte für ihn die Mühle und die Kirche dahinter."

Das gesellschaftliche Leben in Kralupy hat wohl nie besonders pulsiert. Zumindest ist dies auf Grund der Lektüre von "Allen Schönheiten der Welt" anzunehmen, wo der Bahnhof als der wichtigste Treffpunkt der Stadt beschrieben wird.

"Sonntags spazierte man über den Markt, wochentags, freilich nicht regelmäßig, über den Bahnsteig. Vielleicht, weil auf dem Bahnsteig etwas los war: Menschen trafen ein und fuhren ab, Lokomotiven pfiffen, und Güterwagen wurden rangiert. Hier herrschte mehr Verkehr als in den stillen Straßen. Der Bahnsteig erinnerte an die Kolonnade in Marienbad. Allerdings wirkte er armselig und ein wenig trist. Manchmal war dort alles voller Qualm, aber dann wieder wehte ein frischer Wind, trug ihn fort, und es duftete von dem bewaldeten Hang gegenüber. Wenn ich als kleiner Junge auf dem Bahnsteig in Kralupy ankam, weinte ich vor Freude. Und wenn ich abreiste, flossen die Tränen vor Kummer."

Das Leben und Schaffen des Dichters wird durch eine Ausstellung im Städtischen Museum dokumentiert. Jan Racek kann außerdem auch über weitere Orte in der Umgebung von Kralupy erzählen, die Seifert gerne besucht hatte.

"Man kann gemeinsam mit Seifert durch die Umgebung wandern. Die entsprechenden Andeutungen finden wir nicht nur in den Erinnerungstexten, sondern auch in verschiedenen Gedichten. Man kann diese Werke lesen und dann Seiferst Spuren nach Kralupy und in die nächste Umgebung folgen."

Wir können so Chvateruby besuchen. In dem dortigen Schloss hielt sich der tschechische Dichter Jaroslav Vrchlicky bei seinem Onkel auf, der dem jungen Literaten als Vorbild stand. Man kann auch nach Dolínek gehen, ins Geburtshaus eines anderen Dichters Vitezslav Halek. In einem Gedicht und einer Erzählung beschreibt Seifert auch einen Abschnitt des Pfades der Moldau entlang, von Kralupy nach Nelahozeves. Wohl erblickt man dort sogar Eisvögel, die der Dichter mal selbst beobachtet hat. Und noch eine wichtige Tatsache muss erwähnt werden.

"Seifert wünschte sich, auf dem hiesigen Friedhof begraben zu werden, in einem gemeinsamen Grab mit der Familie seines Großvaters Antonin Boruta. Dadurch wurde die symbolische Beziehung des Dichters zu Kralupy zu Ende geführt und Jaroslav Seifert kehrte zu seinen Wurzeln in unsere Region zurück."

Ja, liebe Hörerinnen und Hörer, und gerade an diesen Punkt unserer heutigen Erzählung wollen wir mit der Quizfrage anknüpfen. In welchem Jahr ist der Dichter und Nobelpreis-Träger gestorben? Wenn Sie die richtige Antwort kennen, schicken Sie uns diese an die Postadresse: Radio Prag, Vinohradska 12, PLZ 120 99, Prag 2, oder an die E-Mail Adresse deutsch.radio.cz. Ich wiederhole noch einmal die Frage: In welchem Jahr starb Jaroslav Seifert? Und bevor wir uns für heute verabschieden, wollen wir dem Dichter zum letzten Mal das Wort überreichen.

"Läutet noch einmal für mich, ihr Glocken von Kralupy! Und klingt noch lange ... Ich werde mich auf eine Bank setzen, werde lauschen und, das schwöre ich, kein Wort sagen. Noch einmal will ich mich satt hören an eurer metallenen Stimme. Und du, du Stadt, auch wenn du nach den jüngsten Katastrophen für mich ein bißchen verändert bist - ich denke vor allem an die schrecklichen Bombardements am Ende des Krieges und an das große Hochwasser kurz danach -, du bist meine süße, geliebte, ewig von schmutzigem, fettigem Ruß gesteinigte Rose."

Und damit sind wir am Ende angelangt. Aus dem Studio verabschieden sich von Ihnen Gerald Schubert und Markéta Maurová.

10
50.241203300000
14.311788600000
default
50.241203300000
14.311788600000