Namibische Kinder in der ČSSR
Sie stammten aus Flüchtlingscamps und gingen in der kommunistischen Tschechoslowakei in die Schule. Die Rede ist von 56 namibischen Kindern, die 1985 in die ČSSR kamen. Nach der politischen Wende mussten sie zurück nach Afrika in ein Land, das sie praktisch nicht kannten. Auch deswegen fühlen sie sich zum Großteil heute noch mit Tschechien verbunden. Die Anthropologin Kateřina Mildnerová hat das Schicksal dieser Kinder erforscht. Ihr Buch „Die namibischen Tschechen“ (Czech Namibians) ist vor kurzem erschienen. Die englischsprachige Redaktion von Radio Prag International hat mit der Wissenschaftlerin gesprochen. Sie hören einen Beitrag von Till Janzer.
Diese Geschichte beginnt beim Befreiungskampf der schwarzen Bevölkerung Namibias gegen die südafrikanische Besetzung. Der Kampf wurde 1966 aufgenommen. Der Widerstand war in der Swapo organisiert, der South-West Africa People´s Organisation. Die Kämpfer lebten in Flüchtlingscamps in den benachbarten Staaten, vor allem in Sambia und Angola. Die Länder des ehemaligen Ostblocks unterstützten den Kampf der schwarzen Namibier gegen die Apartheid. Die Swapo wandte sich daher an sie mit der Bitte, Kinder aus den Flüchtlingslagern zur Erziehung aufzunehmen. Die Anthropologin Kateřina Mildnerová:
„1985 bewilligte die tschechoslowakische Regierung die Aufnahme von 56 namibischen Kindern. Damit wollte sie ihre Solidarität mit der Swapo ausdrücken. Die Südwestafrikanische Volksorganisation unternahm von Sambia und Angola aus militärische Operationen gegen die südafrikanischen Besatzer. In diesen beiden Ländern befanden sich auch die militärischen und zivilen Camps der Swapo, aus denen die Kinder ausgewählt und dann in die Tschechoslowakei geschickt wurden.“
Sechs Jahre zuvor hatte bereits die DDR beschlossen, bis zu 400 namibische Kinder aufzunehmen. Weitere wurden nach Kuba geschickt. Die Tschechoslowakei war das dritte Land, das sich zu dieser Art Hilfe bereit erklärte.
Nachkommen von Swapo-Kämpfern
Unklar ist bis heute, welche Kinder es waren, die in sichere Staaten gebracht wurden. Laut Kateřina Mildnerová gibt es keine ausreichenden Dokumente dazu, auch weil die namibischen Behörden die Personendaten häufig verändert haben. Dennoch glaubt sie, ein wichtiges Detail zur Herkunft gefunden zu haben.
„Laut der offiziellen Version der Swapo waren die meisten von ihnen Waisen, die unter dem Krieg litten und Schutz brauchten. Doch in den Camps gab es Tausende Kinder, auf die diese Beschreibung gepasst hätte. Deswegen habe ich mich gefragt, warum es gerade diese 56 waren. Sie stammten aus unterschiedlichen Lagern, die mehrere Hundert Kilometer voneinander entfernt lagen. Sie selbst erinnern sich daran, dass sie von Soldaten gekidnappt wurden und ihre Abreise sehr chaotisch verlief. Um es kurz zu machen: Meine Recherchen haben gezeigt, dass diese Kinder keine zufällig ausgesuchten Waisen, sondern zum Großteil Nachkommen waren von wichtigen namibischen Freiheitskämpfern wie Greenwell Matongo, Jonas Haiduwa oder Augustus Nghaamwa. Also von führenden Kommandeuren der Volksbefreiungsarmee Namibias (People´s Liberation Army of Namibia, PLAN, Anm. d. Red.) und damit des militärischen Flügels der Swapo“, sagt die Wissenschaftlerin.
Die Kinder wurden zusammen mit sieben namibischen Erziehern in die Tschechoslowakei gebracht. Konkret ging es nach Bartošovice / Patschendorf in Nordmähren. Im dortigen Schloss wurde eine Internatsschule eingerichtet. Zunächst absolvierten die angehenden Schüler einen Intensivkurs in Tschechisch, schließlich sollten sie drei Monate später bereits auf eine Grundschule gehen. Zugleich kümmerten sich aber auch die namibischen Erzieher nach ihren Regeln um sie. Diese Kombination entpuppte sich als misslungene Gratwanderung, wie die Nachforschungen der Anthropologin ergeben haben:
„Die namibischen Betreuer erzogen die Kinder vor allem zu Militarismus, Nationalismus und der Ideologie der Befreiungsbewegung. Man wollte ein namibisches Bewusstsein schaffen. Sie wurden also als Soldaten trainiert. Die Kinder ertrugen diese Art Erziehung aber nur schlecht, man könnte auch sagen: Sie hassten es, weil einige der namibischen Betreuer sie schlugen und sogar sexuell missbrauchten. Zugleich wurden die Kinder nach tschechischem Lehrplan unterrichtet. Letztlich assimilierten sie sich recht schnell und sprachen Tschechisch wie eine Muttersprache.“
Beide Teile der Erziehung und Bildung waren strikt voneinander getrennt – und zwar räumlich wie zeitlich. Das habe zu einer Art kulturellen Schizophrenie geführt, sagt die Autorin des Buchs. Wenn die Kinder etwa am Abend bei den namibischen Betreuern Tschechisch sprachen, wurden sie dafür bestraft, ohne wirklich zu verstehen warum. Ein traumatisches Erlebnis, wie Mildnerová meint.
Auf der anderen Seite erlebten die Kinder gerade vonseiten der tschechischen Lehrer und Erzieher auch sehr viel Zuneigung und Liebe.
„Bis heute haben sie eine gute Beziehung zu ihren tschechischen Betreuern. Sie sagen, diese hätten ihnen erstmals im Leben gezeigt, was es bedeutet, gemocht zu werden. Das half ihnen, die Ängste und Anspannung aus dem Krieg abzulegen. Die tschechischen Betreuer behandelten sie, als seien es ihre eigenen Kinder. Sie wollten ihnen ein liebevolles Zuhause bieten, denn sie wussten um das Leiden im Krieg. Das heißt, sie nahmen die kleinen Zuwanderer mit zu sich nach Hause oder in den Urlaub mit – alles geschah mit großer Hingabe“, schildert Mildnerová.
Einsamkeit und Entwurzelung
Aus dem Sozialisierungsprozess in der damaligen Tschechoslowakei wurden die Kinder jedoch ziemlich unsanft herausgerissen. Ende 1989 begann hierzulande der politische Wandel, und Namibia erlangte im März 1990 die Unabhängigkeit von Südafrika. Kateřina Mildnerová:
„In den Archiven habe ich Dokumente gefunden, die zeigen, dass die Swapo enormen Druck ausübte auf die tschechoslowakischen Behörden, damit die Kinder zurück nach Namibia gebracht wurden. Der Regimewechsel hierzulande warf zudem die Frage auf, wie die Ausbildung weiter finanziert werden könnte. Dem tschechischen Bildungsministerium fehlte dazu einfach das Geld.“
Im Herbst 1991 wurden die Schüler nach Namibia gebracht – ohne Schulabschluss und ohne irgendeine Art psychologischer Betreuung. Zum Großteil kehrten sie zurück in ihre ursprünglichen Familien, von denen sie sich aber schon längst entfremdet hatten…
„Sie kamen in ein Land, in dem sie nie zuvor gewesen waren. Sie waren ja in Angola zur Welt gekommen. Und sie beherrschten nicht die Sprache der Menschen in Namibia, sondern nur Tschechisch. Dieser Kulturschock führte bei ihnen zu dem Gefühl, an den Rand gedrängt zu sein. Und sie hatten auch Sehnsucht nach ihrer Heimat in der Tschechoslowakei. Hinzukam, dass sich viele dieser Kinder in unterentwickelten ländlichen Regionen Namibias wiederfanden. Das Leben dort war hart: kein Strom, keine Sanitäranlagen und kein Zugang zu sauberem Trinkwasser. Aber das größte Problem war die Sprachbarriere. Denn sie beherrschten kein Oshiwambo, also die regionale Sprache dort. Dadurch konnten sie sich weder in der eigenen Familie verständigen, noch weiter zur Schule gehen. Diese Schwierigkeiten führten zu einem Gefühl von Einsamkeit, Entwurzelung und Entfremdung“, so die Anthropologin.
Ein weiteres traumatisches Erlebnis also – nach den Gräueln des Krieges, die sie ebenfalls schon erlebt hatten. Mildnerová war in den vergangenen Jahren dreimal selbst in dem afrikanischen Land und hat die heute erwachsenen „tschechischen Namibier“ interviewt. Insgesamt sprach die Wissenschaftlerin mit 33 von ihnen über ihr Schicksal, aber auch mit den früheren tschechischen und namibischen Erziehern und Lehrern sowie den biologischen Eltern und den Pflegeeltern.
Zu den Kindern hatte die Anthropologin einen guten Zugang, auch weil sie selbst aus der Nähe von Bartošovice stammt:
„Etwas übertrieben könnte man sagen, dass ich für sie ein fehlendes Verbindungsstück zu ihrer Heimat war. Ich habe sogar eine gewisse Hoffnung symbolisiert, dorthin zurückkehren zu können. Denn sie haben mich auch gefragt, wie sich dies für sie bewerkstelligen ließe. Sie haben mir sehr viel Vertrauen entgegengebracht. Und sie waren bereit, mir sowohl ihre schönen als auch ihre traumatischen Erlebnisse aus der Kindheit anzuvertrauen. Man muss aber sagen, dass dies für mich nicht gerade einfach war. Denn ich bin eine Anthropologin, aber keine Psychologin. Und während der Interviews kamen viele intime und heikle Dinge zur Sprache, die meine Gesprächspartner selbst psychisch noch gar nicht bewältigt hatten. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten, die Interviews zu führen, vor allem wenn es um sexuellen Missbrauch, Tyrannei und Kriegstraumata ging.“
Rassismus und Studium in Tschechien
Einige der namibischen Tschechen waren zeitweise auch nach Mitteleuropa zurückgekehrt. Aber nicht immer habe dies ein glückliches und erfolgreiches Ende genommen, wie Kateřina Mildnerová sagt:
„Ein Drittel von ihnen erhielt die Möglichkeit, an tschechischen Universitäten zu studieren. Das war 1997 und 1998. Ihre Rückkehrträume verwandelten sich aber oft recht schnell in Desillusion. Hier in Tschechien trafen sie auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Sie wurden als schwarze Tschechen nicht akzeptiert. Nur die Hälfte von ihnen machte hierzulande einen Uni-Abschluss und bekam eine gute Arbeit in Namibia. Viele der namibischen Tschechen sind heute jedoch arbeitslos und leben in Armut, weil sie eben in ihrer jetzigen Heimat keine Ausbildung erhielten.“
Heute lebt nur ein einziger der 56 tschechischen Namibier noch in der zwischenzeitlichen Heimat. Er hat eine Frau aus Bartošovice geheiratet und arbeitet als Kellner.