Natascha Kampusch: Der österreichische Entführungsfall bewegt die tschechische Öffentlichkeit
Am Mittwoch hatte ein Fernsehinterview in Österreich - und eine Stunde später auch in Deutschland - für Rekordeinschaltquoten gesorgt: Natascha Kampusch, die achteinhalb Jahre lang von ihrem Entführer in einem Keller in der Nähe von Wien gefangen gehalten wurde und sich erst vor zwei Wochen befreien konnte, hatte ihren ersten Auftritt vor der TV-Kamera. Am Donnerstag wurde das Interview dann auch im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen ausgestrahlt. Effekt: Natascha Kampusch prägte am Freitagmorgen das Stadtbild Prags. Wenigstens vor den zahlreichen Zeitungsläden, wo ihr Gesicht nun auch auf den Titelseiten der heimischen Blätter zu sehen ist. Gerald Schubert hat sich mit den Reaktionen der tschechischen Medien befasst.
"Sie haben vorher schon recht intensiv darüber berichtet, also kurz nachdem Natascha Kampusch sich vor zwei Wochen befreien konnte. Aber nun, nachdem das Interview mit ihr auch im Tschechischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, ist das Interesse natürlich besonders groß. Jetzt gibt es ja auch das entsprechende Bildmaterial, das vorher noch gar nicht vorhanden war. Ich würde also sagen, die Sache läuft hier erst so richtig an. Die Tageszeitung Mlada fronta Dnes zum Beispiel hat gleich drei große Bilder auf die Titelseite gesetzt, und sie hat dem Thema auch ihren Aufmacher gewidmet. Die Tageszeitung Lidove noviny hat ebenfalls ein großes Bild direkt auf der Titelseite. Was also die optische Präsenz in der Zeitungslandschaft betrifft, handelt es sich eindeutig um das Thema Nummer eins."
Was schreiben die Zeitungen denn konkret?
"Die genannte Mlada fronta Dnes zum Beispiel hat längere Teile des Interviews wirklich als Interview abgedruckt. Ansonsten gibt es zusammenfassende Artikel, mit Zitaten von Natascha Kampusch. Dabei gibt es natürlich verschiedene Schwerpunkte in dieser doch sehr komplexen Geschichte. Die Journalisten haben sich da also verschiedene Details herausgepickt. Zum Beispiel wird darüber gesprochen, dass Natascha Kampusch ihrer Aussage zufolge wusste, dass sie im Augenblick ihrer Flucht das Todesurteil für ihren Entführer besiegeln würde, weil dieser ihr wiederholt mit Selbstmord gedroht hat. Es gibt auch eine Reportage aus der kleinen Gemeinde Strasshof in der Nähe von Wien, wo sie festgehalten wurde, oder Beiträge über die Beziehung von Natascha Kampusch zu ihren Eltern. Häufig geht es aber auch um die Medialisierung des Falles selbst. Es wird etwa darüber geschrieben, dass mehr als ein Viertel der Österreicher das Interview gesehen hat, oder dass das Gesicht von Natascha Kampusch im Fernsehen nicht verzerrt wurde - die Medienberater haben sich nämlich darauf geeinigt, dass man dadurch den Druck von ihr nimmt, weil ihr die Paparazzi sonst wahrscheinlich niemals Ruhe gegeben hätten. Und es wird auch über etwaige Buch- und Filmrechte diskutiert. Insgesamt wird dem Thema also sehr breiter Raum gewidmet - in den großen Tageszeitungen meist mehr als eine halbe Seite, manchmal auch eine ganze."
Wie erklärst Du dir das große Interesse auch in Tschechien?
"Es handelt sich wohl eher um internationales Interesse - nicht nur in Tschechien. Die Autorin der Reportage aus Strasshof zum Beispiel ist Redakteurin der slowakischen Tageszeitung Sme - auch dort interessiert man sich also für den Fall. Eine andere Tageszeitung in Tschechien wiederum hat ein Bild abgedruckt, das von einer CNN-Sendung übernommen wurde. Die Berichterstattung läuft also kreuz und quer, der Fall hat nationale Grenzen längst überschritten. Es liegt wahrscheinlich am Unvorstellbaren, und auch an der erstaunlichen Entwicklung, die Natascha Kampusch durchgemacht hat, die doch recht souverän auftritt und sehr genau weiß, was sie sagt und was sie will. Außerdem gibt es hier wohl ein allgemeines Kaspar-Hauser-Phänomen. Jeder stellt sich doch die Frage: In welcher Beziehung stehe ich zur Gesellschaft? Was ist das Individuum, und was ist die Gesellschaft, die das Individuum umgibt? Jemand, der achteinhalb Jahre lang nicht in die Gesellschaft integriert war, wirft solche Urfragen natürlich auf. Was ich im Übrigen an der Berichterstattung positiv empfinde: Die Nachbarländer sind einander mittlerweile offensichtlich näher gerückt. Niemand erklärt hier in den tschechischen Tageszeitungen etwas über Österreich, niemand bringt den Fall in einen nationalen Kontext und fragt zum Beispiel, wieso das ausgerechnet dort passiert ist. Es ist eben ein interessanter Fall in der Nachbarschaft, das bedeutet auch in der tschechischen Nachbarschaft. Und so wird er hier auch wahrgenommen."