Nicholas Winton
Von Kathrin Bock.
Im Herbst 1938, nach dem Münchner Abkommen, war die Tschechoslowakei gezwungen, die überwiegend von Deutschen besiedelten Grenzgebiete an das Deutsche Reich abzutreten. Die Mehrheit der dortigen Bevölkerung begrüsste den Anschluss an das Reich. Viele jedoch flohen vor den deutschen "Befreiern": Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Künstler. Sie alle fanden im tschechischen Landesinneren vorerst Unterschlupf. Doch hier wollte keiner dem Frieden so recht trauen. Von drei Seiten waren Böhmen und Mähren vom Deutschen Reich umgeben, es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann auch diese letzte Oase der Demokratie in Mitteleuropa von den Nationalsozialisten besetzt werden würde. Wer konnte, verliess das Land. Wer die Gefahr erkannte, versuchte zu helfen. Einer von diesen Helfern war der damals 29jährige britische Börsenmakler Nicholas Winton.
Eigentlich hatte der gutverdienende Junggeselle Winton für den Winter 1938/39 einen Skiurlaub in der Schweiz geplant, doch ein guter Freund lud ihn nach Prag ein. Was Winton hier sah, veranlasste ihn zu sofortigem Handeln. In Prag drängten sich die Flüchtlinge aus den abgetrennten Sudetengebieten - und deren Kinder. Einige Organisationen waren damals darum bemüht, Erwachsene aus dem Land zu bekommen, doch keiner kümmerte sich um die Kinder.
"Ich habe gesehen, dass die Kinder das Problem sein werden, weil es keine Organisation gab, die sich um sie kümmerte. Ein weiteres Problem war, dass niemand glaubte, dass man den Kindern helfen könne, weil kein Land sie aufnehmen werde. Aber ich sage immer, alles ist möglich, wenn man es nur will" (N.Winton)
Und so machte sich Nicholas Winton daran, herauszufinden, wie man den Kindern helfen könnte. Zu seinem Erstaunen, war es nicht weiter schwierig, Einreiseerlaubnisse für Grossbritanien zu erhalten, auch in Prag gab es keine grossen Probleme.
"Ich verliess nach einigen Wochen Prag und habe die dortigen Angelegenheiten einem Freund überlassen. Die Details seiner Arbeit kenne ich allerdings nicht. Aber heute herrscht meistens ein falsches Bild über jene Zeit. Die Gestapo und die Deutschen wussten, was wir taten und es scheint, sie waren froh, dass sie einige Juden loswerden. Sie haben keinerlei Probleme gemacht. Das, was wir getan haben, war nicht gefährlich, für niemanden." (N.Winton)
Die Kindertransporte aus Prag fanden vor Kriegsbeginn statt. Es ist erstaunlich, dass dieser damals 29jährige Börsenmakler geahnt zu haben scheint, welches Schicksal Juden und andere von Hitler Verfolgte erwarten würde. Zu einer Zeit, als nichts über Konzentrationslager bekannt war, noch keine Massentransporte stattfanden, drängte Winton, soviele jüdische Kinder so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Winton fälschte sogar britische Einreisevisen, als ihm die Arbeit des zuständigen britischen Ministeriums zu langsam ging. Es scheint, dass Nicholas Winton weitsichtiger war als die meisten Regierungen, denn ausser England und Schweden war im Frühling und Sommer 1939 kein Land bereit, jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei aufzunehmen - angefragt hatte Winton bei allen demokratischen Staaten Europas und den USA.
Vor die schwierigste Aufgabe waren allerdings die Eltern gestellt. Diese mussten sich entscheiden, ob sie dem jungen bebrillten Engländer ihre Kinder anvertrauten. Die Schlange vor dem provisorischen Büro von Winton im heutigen Hotel Europa auf dem Prager Wenzelsplatz wurde von Tag zu Tag länger - Winton strahlte Vertrauen aus und die jüdischen Eltern glaubten ihm.
"Für die Eltern war es eine dramatische Situation, sie mussten ihre Kinder abgeben. Es ist erstaunlich, dass so viele von ihnen die Gefahr erkannt haben. Das zeigt, dass man auf dem Kontinent die Situation treffender eingeschätzt hat als in Grossbritanien." (N.Winton)
Zurück in England erwartete Nicholas Winton viel Arbeit. Die englische Regierung hatte zwei Bedingungen für die Aufnahme der Kinder gestellt: für jedes Kind musste eine Familie gefunden sowie 50 Pfund hinterlegt werden - eine Menge Geld für damalige Verhältnisse. Winton machte sich mit Hilfe seiner Mutter an die Arbeit. In Nachtschichten schrieben sie Briefe, formulierten Anzeigen. Zu diesem Zweck erfand Winton den Namen einer Organisation, bastelte einen Stempel dazu und arbeitete unermüdlich für den guten Zweck. Zur gleichen Zeit lief in dem Prager Hotel auf dem Wenzelsplatz die Arbeit auf Hochtouren. Fragebögen wurden ausgestellt, Photos angefertigt, Karteikarten angelegt. Am 14. März 1939, einen Tag vor der Errichtung des Protektorats, war es soweit. Der erste Zug mit rund 200 jüdischen Kindern verliess den Prager Hauptbahnhof Richtung Grossbritanien. Insgesamt 8 Züge mit 649 Kindern folgten.
Für den 1. September 1939 war der grösste Transport mit 250 Kindern geplant. Sie alle hatten sich bereits von den Eltern verabschiedet und sassen im Zug. Doch der Zweite Weltkrieg hatte begonnen und Deutschland verweigerte die Durchreise. Keines jener 250 Kinder hat den Zweiten Weltkrieg überlebt. Ebenfalls vergebens warteten noch über 1000 Kinder auf Wintons Liste auf ihre Rettung - nach Kriegsbeginn konnten keine weiteren Kindertransporte mehr stattfinden.
"Ich kam zu einer Familie in Liverpool, es war eine Methodistenfamilie, die ein sehr grosses Herz hatte. Das erste, was meine neue Mutter zu mir sagte war "Du wirst geliebt werden". Und sie hat mir durch Beispiele beigebracht, wie unwichtig Religion ist, und wie wichtig es ist, anderen zu helfen, nett zueinander zu sein, tolerant zu sein."
Die damals 11jährige Vera Gissing nahm wie die meisten jüdischen Kinder eine christliche Familie auf. Man dachte an einen Aufenthalt von einigen Monaten - aus diesen wurden jedoch sechs Jahre. Wie weitsichtig ihre Eltern im Frühjahr und Sommer 1939 waren, wurde vielen der Kinder erst nach dem Krieg bewusst - keines von ihnen hat seine Eltern je wiedergesehen, sie alle sind in Konzentrationslagern umgekommen - wie auch die Eltern von Vera Gissing.
Die 649 von Nicholas Winton geretteten Kinder waren nach Kriegsende Waisen. Einige von ihnen kehrten in die Tschechoslowakei zurück, andere blieben bei ihren neuen Familien oder wanderten nach Palästina oder Amerika aus. Sie alle waren sich ihres Glückes bewusst. Die meisten von ihnen fanden ihren Weg im Leben. Unter ihnen sind Ärzte, Universitätsprofessoren, Politiker, Regisseure, Schriftsteller. Doch sie alle wussten nicht, wem sie ihr Leben verdankten. 50 Jahre lang erzählte Nicholas Winton niemandem etwas von seiner Tat, nicht einmal seiner Frau.
"Ich denke, dass ist keine Frage des Nichterzählens oder Verschweigens. Es ergab sich einfach nicht. Gleich danach begann der Krieg und sechs Jahre lange war ich bei der RAF als Pilot. Danach war ich beim UNO- Flüchtlingswerk in Genf beschäftigt. Ich hatte einfach keine Zeit und kein Geld mich nach den Kindern zu erkundigen. Ausserdem waren es nur einige Monate meines Lebens. Heute bin ich 92. - Ich habe es einfach vergessen." (N.Winton)
1988 entdeckte Wintons Frau Greta zufällig auf dem Dachboden eine Kiste mit alten Dokumenten, Karteikarten und Kinderphotos. Sie fragte ihren Mann nach deren Bedeutung und erfuhr so zum ersten Mal von den Kindertransporten. Die Geschichte erschien in britischen Zeitungen und Winton wurde zu einer BBC Sendung eingeladen. Hier traf er nach 50 Jahren zum ersten Mal einige "seiner" Kinder - und diese hatten endlich die Möglichkeit ihrem Retter zu danken.
Anlässlich der Premiere eines Dokumentarfilms über ihn, besuchte der 92jährige Winton im September Prag. Auch heute ist die Rettung von 649 Kindern eine Selbstverständlichkeit für ihn. Die paar Monate seines Lebens, in denen er über 600 Kindern das Leben rettete, bleiben für Winton nur eine Episode in seinem langen Leben, in dem er sich stets für andere einsetzte. Rund 200 seiner Kinder haben sich seit 1988 gemeldet, nach weiteren wird auch mittels des Dokumentarfilms gesucht.
Doch für mehr Informationen über diesen bemerkenswerten Mann und sein Leben bleibt uns leider keine Zeit mehr. Der erwähnte Dokumentarfilm mit dem Titel "Die Kraft der Menschlichkeit" soll auch in Deutschland gezeigt werden.