Nicholas Winton und seine Rettungsaktion: Erinnerungen der Fleischmann-Schwestern

Eva Paddock und Milena Grenfell-Baines

Auch in den deutschen Kinos ist jüngst der Film „One Life“ angelaufen – ein Portrait über Nicholas Winton, der mehrere Hundert meist jüdische Kinder vor dem Holocaust rettete, indem er sie mit Zügen aus Prag nach Großbritannien bringen ließ. Radio Prag International hat mit zwei der geretteten Kinder von einst gesprochen.

Nachbildung einer Zugtür von Prag nach London im Jahr 1939 mit Abgüssen der Hände von Kindern und Eltern | Foto: Jolana Nováková,  Tschechischer Rundfunk

Der Film „One Life“ erzählt die Geschichte des Briten Nicholas Winton. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs rettete er 669 überwiegend jüdische Kinder vor dem Holocaust. Mit Zügen wurden die Menschen von Prag nach London gebracht.

Für den Streifen, der jüngst auch in den deutschen Kinos angelaufen ist, führte James Hawes Regie, Nicholas Winton wird von Anthony Hopkins und Johnny Flynn verkörpert. Bei der Tschechien-Premiere des Filmes, der hierzulande unter dem wortwörtlich übersetzten Titel „Jeden život“ läuft, waren auch die Halbschwestern Eva Paddock und Lady Milena Grenfell-Baines zugegen. Sie sind heute 88 und 94 Jahre alt.

Im Gespräch mit Radio Prag International haben die Zeitzeuginnen ihre Erinnerungen an den Sommer 1939 geschildert. Damals hatten die beiden Mädchen noch den Nachnamen Fleischmann – und waren Teil des letzten Rettungstransports, der Prag gen England verließ. Eva Paddock:

„Das war am 29. und 30 Juli. Es war tatsächlich der letzte Zug. Nicholas Winton hatte einen weiteren Zug vorbereitet, mit 200 Kindern an Bord. Dieser verließ Prag am 1. September 1939. Aber dann wurde der Krieg erklärt, und die Kinder konnten nicht ausreisen. Es wird angenommen, dass die meisten von ihnen in den Lagern ums Leben kamen.“

Die beiden Mädchen mussten Prag verlassen, da sie jüdisch waren und ihr Vater, Rudolf Fleischmann, daran beteiligt gewesen war, dem von den Nazis verfolgten Schriftsteller Thomas Mann die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zu verschaffen. Laut Evas Halbschwester, Milena Grenfell-Baines, wussten die beiden später für lange Zeit nicht, wie sie in den Zug geraten waren:

„Das war ein großes Rätsel für uns. Unsere Eltern sprachen nie darüber, und auch die Eltern und Pflegefamilien anderer Kinder bewahrten dahingehend Stillschweigen.“

Die einzigen Erinnerungen: Bananen und Sandwiches

Zum Prager Hauptbahnhof gebracht wurden Eva und Milena 1939 von ihrer Mutter. Wie war es für sie, Abschied von ihren Kindern zu nehmen?

„Ich habe meine Mutter Jahre später danach gefragt. Sie sagte, es habe sich angefühlt, als würde sie sterben“, so Eva Paddock.

Sie selbst hat an die Zugfahrt keine Erinnerungen mehr, war sie doch damals nur dreieinhalb Jahre alt. Aber auch Milena, die neun war, weiß kaum noch etwas von der Reise:

Winton Train | Foto: Soňa Jindrová,  Tschechischer Rundfunk

„Meine Erinnerungen stammen aus einem Büchlein, in das ich geschrieben habe, und dann gibt es noch ein Schild, das ich um den Hals trug. Das ist alles, was mir hilft, mich zu erinnern. Ich habe aber wirklich gar nicht mehr vor Augen, physisch in diesem Zug gesessen zu haben.“

Milena Grenfell-Baines’ Gedächtnis setzt erst mit dem Verlassen des Zuges wieder ein:

„Das Einzige, an das wir uns alle erinnern können, ist, wie wir in Holland ankamen und auf das große Schiff nach England gebracht wurden. Man gab uns dort Tee mit Milch – und niemandem schmeckte das. Wir bekamen auch Sandwiches aus Weißbrot, die keiner wollte. Wenn man sich die Erinnerungen der anderen Flüchtlinge aus Prag durchliest, stellt man fest, dass sie sich immer zumindest an das Essen erinnern können – obwohl sie sonst alles vergessen haben.“

Und so hat dann auch Eva Paddock noch ein entsprechendes Detail der Rettungsaktion im Gedächtnis bewahrt.

„Ich weiß noch, dass ich auf dem Schiff sehr seekrank war. Und man gab mir Bananen. Später habe ich beschlossen, dass es wohl an diesem Erlebnis lag, dass ich dieses Obst nie mochte. Aber mittlerweile bin ich darüber hinweg.“

Foto: Sir Nicholas Winton Memorial Trust

Neue Heimat: Ashton-under-Lyne

Nach der Ankunft in England gelangten Eva und Milena Fleischmann in einen Vorort von Manchester. Zwar war ihr Vater bereits im Land, dieser hatte aber eine schwere Lungenkrankheit, befand sich im Krankenhaus und konnte sich nicht um die beiden Mädchen kümmern. Eva Paddock:

„Wir wurden bei einem wunderbaren Paar in Ashton-under-Lyne untergebracht, das wir als Mama und Papa Radcliff kennenlernten. Wir hatten großes Glück. Wir fühlten uns sehr geliebt und gut umsorgt. Die Radcliffs hatten sich freiwillig bereit erklärt, uns aufzunehmen. Eigentlich wollten sie nur einen Flüchtling, aber dann sahen sie ein Bild von uns beiden zusammen – und ich war damals ein sehr süßes Kind!“, sagt die jüngere der beiden Halbschwestern.

Wie hilfsbereit das Ehepaar gewesen sei, zeige auch eine weitere Begebenheit, so Paddock weiter:

„Das Paar hatte eine Tochter. Sie war 16 Jahre alt und arbeitete in der Mühle. Das war der wichtigste Arbeitgeber im Ort. Um uns aufnehmen, zog Mary zu ihrer Großmutter ganz in der Nähe, und wir kamen zu den Radcliffs.“

Milena Grenfell-Baines mit Nicholas Winton | Foto: Archiv von Milena Grenfell-Baines/Paměť národa

1940 konnte auch die Mutter von Eva und die Stiefmutter von Milena nach England fliehen – mit einem Umweg über Norwegen. Die besondere Beziehung zum Ehepaar Radcliff habe das ganze Leben über bestanden, schildert Eva Paddock. Und auch ihre Eltern hätten sich gut mit den solidarischen Menschen verstanden und sich mit ihnen angefreundet.

In den Anfangsjahren in England ging Milena noch zur Schule. Wie erinnert sie sich an diese Zeit?

„Zunächst besuchte ich zwei Jahre lang eine englische Schule. Dann eröffnete die tschechische Exilregierung eine eigene Schule für Flüchtlinge. Und so verbrachte ich die letzten drei Jahre dort. Ich saß gerade im Unterricht, als das Kriegsende bekanntgegeben wurde. Die meisten der Kinder dachten: ‚Oh toll, jetzt gehen wir nach Hause‘.“

Oftmals hätten diese Kinder in Prag aber niemanden vorgefunden, der nach ihnen suchte. Denn die Angehörigen seien bereits von den Nazis ermordet worden, so Grenfell-Baines. Wie erlebte die damals 15-Jährige selbst das Kriegsende?

„Ich kann mich an keine sonderlichen Feierlichkeiten erinnern. Unsere Eltern entschieden, in England zu bleiben. Präsident Edvard Beneš war zwar wieder zurück in der Tschechoslowakei, und das Land war noch frei, alle Zeichen standen aber bereits auf Sozialismus. Als die Kommunisten dann 1948 an die Macht kamen, war für meine Eltern endgültig klar, dass sie nicht zurückkehren würden.“

Bleiben oder zurückkehren?

Der Vater von Eva und Milena hatte in England eine Anstellung bei der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) gefunden. Die Mutter, eine Ärztin, hatte mit der Zeit genug Englisch gelernt, um in einem Krankenhaus zu arbeiten.

„Unsere Eltern sprachen nie über die Vergangenheit. Und so lebten wir einfach unser Leben weiter“, sagt Milena Grenfell-Baines.

Die junge Frau wurde Kinderkrankenschwester, ging für einige Zeit als Au-pair nach Frankreich, kam dann zurück nach England, lernte ihren späteren Mann kennen, heiratete und wurde Mutter. Und auch Eva heiratete früh und gründete eine Familie.

Eine TV-Sendung änderte alles

Mit ihrer Vergangenheit wurden die Geschwister erst 1988 durch eine TV-Sendung konfrontiert.

„Eines Morgens war ich gerade in der Küche, als das Telefon klingelte. Eine Stimme meinte, sie sei Esther Rantzen. Ich wusste natürlich, wer das war, und sagte: ‚Und ich bin die Königin von England!‘“

Doch es handelte sich nicht um einen Telefonscherz, und Milena Grenfell-Baines hatte tatsächlich eine der damals berühmtesten TV-Moderatorinnen Englands am Hörer.

Nicholas Winton und seine Kinder | Foto: Robert Mikoláš,  Tschechischer Rundfunk

„Sie fragte mich, wie ich vor meiner Hochzeit hieß. Ich meinte: ‚Milena Fleischmann‘. Und sie sagte, dass sie meinen Namen in einer Liste vor sich habe. Sie habe den Mann gefunden, der 669 Kinder gerettet habe, ich und meine Schwester seien zwei von ihnen gewesen. Er hieße Nicholas Winton und solle in der Sendung ‚That's Life!‘ überrascht werden. Rantzen fragte mich, ob ich nach London ins Studio kommen und eine der Teilnehmerinnen sein will.“

Und Grenfell-Baines wollte…

„Am Set sagte mir die Moderatorin, das Herr Winton neben mir sitzen würde. Ich durfte mich aber nicht zu erkennen geben, denn es solle eine Überraschung sein.“

In einem Mitschnitt der Fernsehsendung „That's Life“ ist der berührende Moment zu sehen. Nichtsahnend sitzt Nicholas Winton in der ersten Reihe des Fernsehstudios, neben ihm die Menschen, denen er einst das Leben gerettet hat, darunter auch Milena Grenfell-Baines.

Wir wollen die Botschaft weitergeben, dass es – wie Winton sagen würde – nicht ausreicht, nicht böse zu sein.

Die Fernsehsendung machte Nicholas Winton, der jahrzehntelang niemandem von der Rettungsaktion erzählt hatte, weltberühmt. Von Königin Elisabeth II. wurde er zum Ritter geschlagen, Tschechiens Präsident Václav Havel verlieh ihm den Masaryk-Orden. Dreimal war Winton zudem für den Friedensnobelpreis nominiert. Die TV-Aufzeichnung von „That's Life“ ist zudem einer der Schlüsselmoment im Film „One Life“. Und auch für die beiden Halbschwestern hat der Moment einiges im Leben verändert.

„Wir sind ja die letzten Augenzeuginnen dieser Ereignisse“, so Eva Paddock. Und genau deshalb gehen die beiden Frauen bis heute an Schulen, um ihre Geschichte zu erzählen.

„Wir wollen die Botschaft weitergeben, dass es – wie Winton sagen würde – nicht ausreicht, nicht böse zu sein. Man muss gut sein. Und wenn man nur einer alten Frau über die Straße hilft: Man sollte immer daran denken, wie man andere unterstützen kann“, so Milena.

„Ein wunderbares Porträt über einen großartigen Mann“

Eva Paddock zufolge zeigt die Geschichte von Nicholas Winton die Bedeutung von Altruismus:

„Er hat das alles uneigennützig getan. Und die Moral ist auch die – wie er es sagen würde – Kraft des Einzelnen. Wenn ich vor den Kindern spreche, betone ich immer wieder, dass man manchmal keine Gruppe sein muss. Wenn man etwas sieht, das getan werden muss, dann ist man selbst die Gruppe. Eine Person kann das Leben vieler Menschen grundlegend verändern.“

Sir Nicholas Winton starb 2015 im Alter von 106 Jahren. Wie blicken die zwei von ihm geretteten Frauen auf den neuen Film, der das Schicksal des Mannes zeigt?

„Ich denke, es ist ein wunderbares Porträt über einen großartigen Mann – und eine kraftvolle Nachricht für alle, die mehr über seine Geschichte erfahren und ihm nacheifern wollen“, so Eva Paddock. Und ihre große Schwester stimmt ihr da voll zu.

Winton-Denkmal am Prager Hauptbahnhof | Foto: Jan Rosenauer,  Radio Prague International
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