Januar 1939: eine Luftbrücke für jüdische Kinder
Rund 100 jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei wurden Anfang 1939 per Flugzeug vor den Nazis gerettet. Bisher war diese Aktion nicht bekannt.
Vor einigen Jahren arbeitete Jiří František Potužník zusammen mit einem Fotografen an einem Bildband über die Geschichte des Prager Flughafens. Dabei stieß er auf ein beeindruckendes Foto, auf diesem war ein kleiner Junge zu sehen. Auf der Rückseite des Fotos sei nur das Datum 12. Januar 1939 gestanden, sonst nichts, erzählt Potužník.
„Uns fiel auf, dass nicht der unbekannte Pilot, sondern der kleine Junge das Foto dominiert hat. Und es war derselbe Junge, der auf einem bekannten Foto von Sir Nicholas Winton auf dem Arm gehalten wird. Dieses Foto sollte angeblich vom März 1939 stammen.“
Foto mit Winton
Nicholas Winton organisierte im Jahr 1939 die Rettung von rund 700 jüdischen Kindern aus der Tschechoslowakei. Er brachte sie mit Zügen nach Großbritannien. Laut Winton soll der erste Zug im März 1939 in Prag losgefahren sein und der letzte kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sagt Potužník.„Ich denke, niemand ist die Idee gekommen, dass Winton auch bei einer weiteren Rettungsoperation geholfen haben könnte, von der niemand wusste und die sich schon im Januar 1939 abspielte. Das war also noch vor dem Einmarsch der Nazi-Truppen.“
Mission Barbican
Jiří František Potužník versuchte nach der Entdeckung, mehr über das Schicksal des Jungen auf dem Foto herauszufinden. Bei den Recherchen stieß er auf die vermutlich erste Rettungsaktion von jüdischen Kindern aus der Tschechoslowakei.
„Ich habe einen Film im Holocaust-Archiv in Washington gefunden, der dieses Ereignis dokumentiert. In der Notiz, die dem Film beigefügt war, schrieb der damalige Kameramann, dass es sich um eine Rettungsoperation gehandelt hat, bei der 30 jüdische Kinder aus Prag über Rotterdam nach London geflogen wurden und dass dies von einer christlichen ,Mission Barbican‘ organisiert worden sei. Wir kennen nur den Familiennamen des Kameramanns, er hieß Janák. Wie wir in den Archiven erfahren haben, wurde die ‚Mission Barbican‘ Ende des 19. Jahrhunderts in London gegründet. Ihre Aufgabe war es, Juden das Evangelium zu vermitteln. In den Jahren 1938 bis 1939 leitete Isaac Davidson die Mission, er war vom Judentum zum Christentum konvertiert. Reverend Davidson gründete eine Zweigstelle der Mission Barbican in Prag. Wie uns später eines der damals geretteten Mädchen erzählt hat, wandten sich die Eltern an die Mission mit der Bitte um die Rettung ihrer Kinder vor den Nationalsozialisten.“Dem Regisseur zufolge wurden auch jüdische Kinder nach London gebracht, die zuvor mit ihren Eltern vor Hitler aus Deutschland oder Österreich nach Böhmen geflüchtet waren.
Inge Plitzka blieb in London
Die Forschung über das Schicksal der Kinder war dadurch erschwert, dass es die Mission Barbican seit 50 Jahren nicht mehr gibt. Regisseur Jiří František Potužník und Kameramann Roman Vávra fanden jedoch die Nachfolgeorganisation „Christian Witness to Israel“, die in London ihren Sitz hat. Der Regisseur:„Wir haben sie persönlich besucht. Der Direktor hat uns ins Archiv geführt. Dort fanden wir ungeordnete Schachteln mit Dokumenten jener Kinder, die im Januar und März 1939 nach London ausgeflogen wurden. Da 50 Jahre nach der Rettungsoperation ein Treffen der Geretteten stattgefunden hatte, gab es auch einige Adressen. Wir schrieben dorthin, und nach einer gewissen Zeit meldete sich Inge Plitzka bei uns. Sie war damals sechs Jahre alt gewesen und kam mit ihrer Schwester nach London. Ihren Mädchennamen hat sie behalten und ist aber in London geblieben.“
Die Filmemacher fanden zudem noch eine weitere Zeitzeugin. Heute heißt sie Hanna Popper. 1939 war sie fünf Jahre alt und das jüngste der Mädchen, die damals mit dem Flugzeug nach London flogen. Darum wurde sie viel fotografiert und ist auch in einem Film zu sehen, der im Holocaust-Archiv in Washington aufbewahrt ist. Es war jedoch nicht einfach, Hana zu finden, weil sie zweimal ihren Familiennamen gewechselt hat.
„Während des Kriegs nahm sie den Namen ihres neuen Vaters an: Aus Hannelore Erich wurde Hanna Kasriel. Nach dem Krieg kehrte sie mit den Eltern in die Tschechoslowakei zurück. 1948 musste die Familie jedoch vor den Kommunisten fliehen. Hanna ließ sich in Kanada nieder, heiratete dort und heißt nun Popper. Es hat ein paar Jahre gedauert, Frau Popper zu finden.“Bewegendes Treffen in Kanada
Die Begegnungen mit den Zeitzeuginnen seien für ihn sehr bewegend gewesen, erzählt Jiří František Potužník.
„Inge Plitzka hat uns unglaublich freundlich empfangen. Sie hat einen Kuchen gebacken und ihre Erinnerungen mit uns geteilt. Ich war gerührt von ihrer Freundlichkeit. Auch Hanna Popper war sehr nett. Obwohl sie sich zwei Wochen zuvor ein Bein gebrochen hatte, ging sie mit uns ins Luftfahrtmuseum. Sie kletterte die Treppe hinauf in ein historisches Flugzeug, um sich an den Flug aus Prag zu erinnern. Das Entgegenkommen und die große Freundlichkeit der Menschen waren wirklich rührend.“
Es gab zwei Flüge, bei denen rund 100 jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach London gebracht wurden: am 12. Januar und am 8. März 1939. Die Geretteten lebten dort aber nicht – wie die späteren sogenannten Winton-Kinder – in Familien. Vielmehr kümmerte sich die Mission Barbican selbst. Dank Spendern kaufte sie zwei Häuser, das eine für die Mädchen, das andere für die Jungen. Für die Kinder war dort verhältnismäßig gut gesorgt.Was wurde aus dem Jungen auf dem Foto?
Am Anfang war das Foto des kleinen Jungen. Wie war sein Schicksal?
„Wir haben herausgefunden, dass er Hansi Beck geheißen hat. Er war das jüngste Kind, das nach London geflogen wurde. Darum wurde er viel fotografiert. Inzwischen ist er zum Symbol geworden, weil das Foto mit ihm und Sir Winton auch als Illustration für die Winton-Züge benutzt wird. Obwohl man sich gut um ihn gekümmert hat und er geimpft wurde, erkrankte er an einer Ohreninfektion. 1943 starb er an einer Entzündung des Schläfenbeins. Er war das einzige der geretteten Kinder, das noch während des Kriegs gestorben ist.“Jiří František Potužník hat seinen Film über die Rettungsflüge für das öffentlich-rechtliche Tschechische Fernsehen gedreht. Darin tritt der Regisseur als Begleiter und Erzähler auf. Dazu habe er Potužník überredet, sagt Kameramann Roman Vávra:
„Jiří denkt analytisch. Er geht den Problemen immer auf den Grund und sucht nach Zusammenhängen. Bisher hatte er keine Erfahrung mit einer dramatischen Erzählform. Ich habe ihm geraten, dass wir eine Geschichte erzählen und diese vom Foto her aufrollen. Da wir einen Erzähler gebraucht haben, konnte ich ihn davon überzeugen, dass es sein Thema ist und seine Emotionen dort drinstecken.“Der Dokumentarfilm wird auch im Ausland gezeigt. Er wurde inzwischen in einer englischen Fassung produziert. Die Frauen, die im Film Tschechisch sprechen, wurden von der ehemaligen britischen Botschafterin in Prag Jan Thompson synchronisiert.
Der Film mit dem Titel „Barbican: eine vergessene Mission“ hat seine Premiere am Dienstagabend im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen.