Digitale Erinnerung: Die MemoMap zeigt jüdische Schicksale Prags
In Prag gibt es viele Orte, an denen nichts mehr an die jüdischen Bewohner erinnert, die bis zum Zweiten Weltkrieg hier lebten und von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Ein neuer interaktiver Stadtplan macht ihre Geschichten digital sichtbar und zeigt, wo Verfolgung und Ausgrenzung stattfanden. Er heißt MemoMap.
Wenn man einen Spaziergang durch die historischen Straßen Prags macht, stößt man immer wieder auf goldene Steine, die in den Gehweg vor den Häusern eingelassen sind. Über 300 dieser Stolpersteine sind mittlerweile in Prag zu finden. Doch die Zahl der Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, ist bedeutend höher. An einigen Orten der Stadt erinnert heute nichts mehr an das Ausmaß der Verfolgung– so zum Beispiel auch am Platz „Náměstí Míru“, unweit des Nationalmuseums.
Doch ein Blick auf die MemoMap zeigt unzählige Schicksale der früheren jüdischen Bewohner. Vor mehr als 80 Jahren lebte dort beispielsweise Jan Fischer, bis er 1942 von den Nazis deportiert wurde. Nur wer die App öffnet, geht nicht mehr ahnungslos an dem Haus vorbei.
An der Entwicklung der Karte war Michal Frankl vom Masaryk-Institut und Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften maßgeblich beteiligt. Für ihn ist das Projekt mehr als nur eine digitale Karte:
„Die MemoMap ist eine Erinnerungskarte, die die Geschichte des Holocaust in der Stadt Prag zeigt. Dahinter steckt die Idee nicht nur einer anderen Form der Erinnerungskultur, sondern auch eines anderen Effekts, den wir erreichen wollten. Das heißt, dass wir unsere eigene Stadt, den Raum, in dem wir uns normalerweise bewegen, in dem wir leben, arbeiten oder einkaufen gehen, anders kennenlernen.“
Im Kino verhaftet
Auf der Karte sieht man nicht nur die Namen der Menschen, die in den Häusern gelebt haben, sondern – wenn vorhanden – auch Bilder und das Geburtsdatum.
Das Bild von Jan Fischer zeigt einen freundlichen jungen Mann mit dunklem lockigen Haar. Klickt man darauf, wird man auf die Internetseite holocaust.cz weitergeleitet und erfährt dort Folgendes: Zum Zeitpunkt der Verhaftung war er 18 Jahre alt. Nach seiner Inhaftierung wurde er in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht und ein Jahr später, 1943, nach Auschwitz deportiert, wo er ermordet wurde. Insgesamt werden drei Dokumente zu ihm angezeigt, die man einsehen kann.
Solche Daten und die dazugehörigen Dokumente finden sich auf der Karte für unzählige weitere Verfolgte. Möglich ist das unter anderem durch eine offene Opferdatenbank, doch auch viele weitere Archive spielten bei der Entwicklung eine große Rolle. Im Vordergrund stand vor allem die Nutzung neuer Informationen.
„Eine wichtige Idee dabei war, dass wir nicht nur die Opferdaten verwenden, sondern auch neue Daten aufbereiten. Die Opferdaten selbst stammen aus einer Menge von Archiven und verschiedenen Erinnerungsdokumentationsprojekten – und zwar nicht nur aus Tschechien, sondern auch aus Deutschland, Österreich, Israel und anderen Ländern. Weitere Daten stammen von Familien der Verfolgten oder von den Verfolgten und Überlebenden selbst.“
Ebenso wurden Daten aus dem Polizeiarchiv bei der Entwicklung verwendet. So ist es möglich, auf der MemoMap die Orte zu sehen, die Juden und Jüdinnen ab 1942 nicht mehr betreten durften – sie sind auf der Karte rot gekennzeichnet.
Gegenüber von Jan Fischers ehemaligem Wohnhaus befand sich ein Kino. Direkt daneben blinkt ein rotes Ausrufezeichen. Dieses symbolisiert Vorfälle, bei denen jüdische Einwohner wegen Verstößen gegen antijüdische Vorschriften von der Prager Polizei verhaftet wurden. An genau dieser Stelle wurde Osi Schachne festgenommen, weil er versucht hatte, das Kino zu betreten. Mehr erfahre ich nicht über ihn. Doch die Möglichkeit, sich direkt an diese Orte zu begeben, macht die Vergangenheit greifbarer. Plötzlich steht man selbst dort, wo einst Ausgrenzung und Verfolgung stattfanden. Und genau das sei auch ein Grund, weswegen die Karte so wichtig ist, sagt Michael Frankl. Und zwar um das Vergangene nicht nur zu verdeutlichen, sondern auch, um Ungleichheiten in der Gegenwart zu verstehen:
„Für mich ist nicht nur das Technologische wichtig, sondern dass wir uns dadurch einerseits an die Geschichte der Shoah erinnern, andererseits aber auch über den öffentlichen Raum nachdenken, in dem wir uns selbst bewegen. Was bedeutet das für uns heute? Gibt es vielleicht Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die auch heutzutage in den Straßen unserer Städte geschehen? Das ist genau die Diskussion, die wir dadurch initialisieren möchten.“
Geschichte selbst entdecken
Es gibt bereits zahlreiche Projekte, die an den Holocaust erinnern. Wirklich neu ist die Idee also nicht, denn man kann auch auf anderen digitalen Karten beispielsweise Stolpersteine entdecken. Die Entwickler der MemoMap wollten diese Idee jedoch erweitern:
„Wir haben sehr intensiv mit unserem Partnerprojekt Memento Wien zusammengearbeitet. Und ich denke, dass sind zwei Projekte, die nicht nur technologisch weitergekommen sind, sondern bei denen man sich überlegt hat, wie im städtischen Raum an den Holocaust erinnert werden kann. Ich denke, die MemoMap schafft dieses Bewusstsein auch in Situationen, in denen wir das nicht erwarten“, so Frankl.
Der Historiker findet es dabei wichtig, alle Altersgruppen mit einzubeziehen, denn gerade für junge Menschen liege das Thema in ferner Vergangenheit. Die Karte solle dabei helfen, allen die Geschichte der jüdischen Verfolgten näherzubringen, betont Frankl:
„Ich denke, einerseits hilft es, wenn etwas über das Handy angeboten wird. Andererseits erzählen wir keine autoritativ formulierte Geschichte, sondern jeder kann diese durch die Daten und das Handy selbst entdecken und neu deuten. Und unser Ziel ist, dass jede Generation die Geschichte der Shoah neu erforscht und auch selbst die Schlussfolgerung daraus zieht. Ich würde mir sehr wünschen, dass in der Zukunft die App auch mehr an Schulen genutzt wird.“
Bislang ist die MemoMap nur in Prag verfügbar, doch das Feedback ist so gut, dass das Masaryk-Institut daran arbeitet, die Karte auch in andere Städte zu bringen.
„Das Interesse war immer sehr stark. Wir haben sehr viele E-Mails bekommen mit verschiedenen Verbesserungsangeboten, die wir nach Möglichkeit auch immer berücksichtig haben. Ich habe das Gefühl, dass die Karte durchaus funktioniert. Im letzten Jahr hat das Masaryk-Institut sehr intensiv an einer App für die Kleinstadt Pacov gearbeitet. Das ist ein Versuch, dasselbe Prinzip im Raum einer kleineren Stadt auszuprobieren. Ich hoffe, dass wir in Zukunft auch weitere Städte anbieten können. Wir haben durchaus positive Reaktionen gesehen.“
Die MemoMap macht sichtbar, was mit der Zeit vergessen wurde – sie zeigt die Schicksale der Menschen, die einst in Prags Straßen lebten, durch die wir heute ahnungslos gehen. Bei der Entwicklung der Karte kam Michael Frankl immer wieder ein Gedanke:
„Und zwar, dass es bestimmte Orte gibt, an denen sich die Spannung und die Verfolgung deutlicher zeigte. Zum Beispiel bei der Prager Viktualienbörse, wo Juden der Zutritt vom einen auf den anderen Moment verboten wurde. Dort wurden sehr viele jüdische Menschen mitten auf der Straße verhaftet. Ich frage mich immer, inwieweit das mit der Entwicklung von Prag als einer modernen Großstadt in Zusammenhang steht. Und auch mit den deutsch-tschechischen Konflikten über den städtischen Raum hinaus, sowie mit der rassistischen Neudeutung des Raumes der Stadt Prag. Hinter diesen Daten, die wir dort anbieten, stecken eigentlich sehr reiche und wichtige Geschichten. Es ist ein Spiegel der Geschichte der Stadt.“
Die MemoMap ist online verfügbar. Abrufbar ist sie auf der Internetseite memomap.cz sowohl auf Tschechisch als auch auf Englisch.