Als wäre das alles gestern geschehen – Zeitzeugen erinnern sich an Gräuel des NS-Regimes

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind über 75 Jahre vergangen. Noch immer gibt es Menschen, die persönlich Zeugnis von dessen Gräueln ablegen können. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hat fast eintausend Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung angesprochen und um ihre Erinnerungen und Botschaften gebeten. Aus ihren Antworten ist ein außergewöhnliches Buch entstanden mit dem Titel „Jako by se to všechno stalo včera“ / „Als wäre das alles gestern geschehen“.

Quelle:  Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds

Es sind einzigartige Zeugnisse, die diesem Buch zugrunde liegen: Die Erinnerungen der letzten tschechischen Überlebenden des NS-Regimes. Sie haben als Jugendliche die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt durchlitten, die Auslöschung von Lidice überlebt, ihre Eltern wurden als Widerstandskämpfer hingerichtet. Ihre Erinnerungen haben sie dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zum 75. Jahrestag des Kriegsendes anvertraut.

Sie reagierten damit auf einen Brief, den der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds an eintausend Menschen geschickt hatte, sagt sein Ko-Vorsitzender, Tomáš Jelínek:

Präsentation des Bandes | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Aufgrund dieses Schatzes haben wir ein Buch herausgegeben mit einem Essay von Radka Denemarková. Es lässt, glaube ich, niemanden gleichgültig. Im Buch kann man auch wunderbare Porträtfotos von Karel Cudlín finden, die die Überlebenden zeigen, sowie viele Zitate von ihnen.“

Die tschechische Gegenwartsautorin Radka Denemarková hat sich von den Erinnerungen und Botschaften dieser Menschen zu einem Essay über den Holocaust, die moderne Gesellschaft und die immanenten Machtmechanismen inspirieren lassen:

Karel Cudlín,  Silja Schultheis,  Radka Denemarková,  Renata Pavelková  (dritte von rechts),  Petra Ernstberger und Tomáš Jelínek | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Man hat mich angesprochen, einen Text zu schreiben. Das war sehr schwierig. Zu jedem Lebenslauf hätte ich einen Roman schreiben können, aber mein Leben ist nicht so lang. Ich habe darüber nachgedacht und mir gesagt, ich muss etwas schreiben, was essenziell ist. Ich wollte nicht nur über den Holocaust und Zweiten Weltkrieg, sondern über die heutige Welt schreiben – warum auch heute diese autoritären Systeme und Diktatoren für so viele Menschen in der Welt  verlockend sind. Ich wollte auch darüber schreiben, wie diese Mechanismen der Macht funktionieren, also wirklich warnen.“

Holocaust, moderne Gesellschaft und immanente Machtmechanismen

Die Autorin stellt in ihrem Text gleich mehrere Fragen:

Radka Denemarková | Foto: Věra Luptáková,  Tschechischer Rundfunk

„Die erste Idee war eine Frage, die absolut radikal war: Warum haben wir alle das erlaubt? Der Holocaust entstand in Europa, und Europa hatte sich eigentlich als zivilisiert, kulturschaffend und christlich mit all seiner Nächstenliebe definiert. Die zweite Frage beinhaltete, dass dieses Trauma ein Trauma von Europa, also ein Trauma von uns ist. Es verschwand nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern ist auch ein Trauma der nächsten Generationen, demnach von uns allen.“

In ihrem Text bietet Denemarková auch Antworten auf diese Fragen, auch wenn dies ihren Worten nach sehr schwierig gewesen sei:

Illustrationsfoto: chenspec,  Pixabay,  CC0 1.0 DEED

„Über den Holocaust wurde schon vieles geschrieben. Aber wir leben in einer Zeit, in der immer etwas Neues in der Luft ist. Aufgrund der sozialen Medien war es noch nie in der Vergangenheit war es so leicht, Propaganda zu machen aufgrund der sozialen Medien usw. Nie war es so leicht, eine Politik der Emotionen zu betreiben und nicht eine Politik der Argumente. Warum haben wir im 21. Jahrhundert wieder diese uralten Vorurteile – Antijudaismus, Antisemitismus, Rassismus? Wir haben auch heute noch Genozide, in China, in Russland, in Belarus, in Afghanistan… Das alles habe ich als Warnung genommen. Denn die Ausgangssituationen sind immer die gleichen: Wenn jemand an der Macht ist und Minderwertigkeitskomplexe hat, findet er immer eine Opfergruppe.“

Überlebende des NS-Terrors

Insgesamt 22 Persönlichkeiten sind im Buch porträtiert. Die Präsentation des Bandes fand vor kurzem in der Prager Staatsoper statt, unmittelbar vor dem Festkonzert für die Holocaust-Überlebenden und ihre Familien. Unter den Gästen war auch die 97-jährige Hana Hnátová, geborene Lustigová. Im November 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Später kam sie nach Auschwitz, in das KZ-Außenlager Freiberg und nach Mauthausen. Nach dem Krieg holte sie das Abitur nach und arbeitete als Büroangestellte. Sie lebt in Prag und hat zwei Kinder. Sie sei glücklich, dass sie das überlebt habe, und denen dankbar, die ihr geholfen haben, sagt Hnátová:

Hana Hnátová | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Es war schwer, nach dem Krieg ein normales Leben anzufangen. Aber Gottseidank, die entstehende Freiheit hat uns sehr geholfen. Ich habe eine Familie und kann sagen, ich bin glücklich. Ich denke oft an meinen Bruder, der schon zehn Jahre auf dem Friedhof liegt. Er hat alles, was er im KZ erlebt hat, zusammengeschrieben. Ich weiß nicht, ob sie seinen Namen kennen – es ist Arnošt Lustig.“

Arnošt Lustig war ein tschechischer Schriftsteller und Publizist, der sich in seinen Prosatexten hauptsächlich mit dem Holocaust beschäftigte. Nach dem Krieg hat er immer wieder von seinen Erlebnissen berichtet. Aus den Reaktionen der Menschen habe er gesehen, dass niemand dies glauben konnte, sagt Hnátová:

„Das war der Anlass zum Schreiben, die Erinnerungen auf Papier zu bringen. Zuerst Artikel, dann Novellen und viele weitere Titel. Sein Motto war: Jeder Mensch hat ein eigenes Schicksal. Es gibt nie zwei gleiche Schicksale.“

„Ich hoffe, dass die junge Generation durch das ständige Erinnern an die Geschichte und das NS-Regime eine Vorstellung von dem Unrecht bekommt. Wir dürfen nicht aufhören, uns für den Erhalt von Freiheit und Demokratie stark zu machen.“

Und was hat Hana persönlich geholfen, die Folterungen in den KZs zu überleben?

„Ich habe daran geglaubt,  dass die Alliierten siegen  müssen. Ich war immer überzeugt, dass das Gute gewinnen müsse, nicht das Schlechte. Ich habe einen starken Willen und habe ihn genutzt. Manchmal war es wirklich nicht einfach zu überleben, aber wir haben es geschafft. Ich bin froh, dass ich den Frieden erlebt habe, und sehr dankbar. Hoffentlich sind alle Leute so vernünftig, dass sie gut überlegen, was unsere Zukunft erfordert.“

Soweit Hana Hnátová. Sie hoffe, dass die junge Generation durch das ständige Erinnern an die Geschichte und an das NS-Regime eine Vorstellung von Unrecht bekomme. Wir dürften nicht aufhören, uns für den Erhalt von Freiheit und Demokratie stark zu machen, so ihre Botschaft in der Publikation.

„Wenn ich damals nur ein Jahr älter gewesen wäre, wäre ich jetzt auf dem Denkmal für die ermordeten Kinder von Lidice abgebildet, Hand in Hand mit meiner großen Schwester.“

Wenn er damals nur ein Jahr älter gewesen wäre, wäre er jetzt auf dem Denkmal für die ermordeten Kinder von Lidice abgebildet, Hand in Hand mit seiner großen Schwester. Dies schreibt Jiři Pitín im Buch „Als wäre das alles gestern geschehen“:

„Glücklicherweise war ich nur sieben Wochen alt, deswegen kann ich nun hier mit Ihnen sprechen. Wir, Kinder im Alter unter einem Jahr, wurden nicht wie die anderen nach Lodz gebracht, sondern in einen Kinderheim in Prag. Nach dem Krieg hat mich meine Tante, eine Schwester meiner Mutter erzogen.“

Jiří Pitín auf einem  Bild von Karel Cudlín | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Pitíns Vater wurde noch im Juni 1942 in Prag erschossen, die Mutter starb im KZ Ravensbrück. Die zehnjährige Schwester wurde, wie auch weitere Kinder aus Lidice, im Vernichtungslager Kulmhof bei Lodz ermordet. Jiří besucht heute Schulen und erzählt bei Debatten mit Schülern seine Familiengeschichte.

Renata Pavelková,  geb. Götzová | Foto:  Archiv von Renata Pavelková,  Post Bellum

Renata Pavelková, geborene Götzová, wurde wegen ihrer halbjüdischen Herkunft als Siebenjährige nach Theresienstadt verschleppt:

„Wir wurden mit einem der letzten Transporte deportiert. Mein Vater war Jude, er heiratete eine Christin. Laut dem damaligen Recht wurden Kinder aus gemischten Ehen, die nach 1935 geschlossen wurden, als Juden betrachtet. Obwohl ich und meine Schwester getauft wurden, musste ich im Alter von sieben Jahren ins KZ. Mein Vater starb dort am Typhus. Ich kehrte zurück und durfte weiterleben. Ich habe 46 Jahre lang als Zahnlaborantin gearbeitet. Heute lebe ich in Ruhe und Zufriedenheit und bemühe mich, das Leben durchzuhalten.“

„Sie haben meinen Vater ermordet. Trotzdem habe ich keine Wut auf die Deutschen, sie bieten doch ständig die Hand zur Versöhnung. Es ist eine andere Zeit heute.“

Obwohl die Deutschen ihren Vater ermordet hätten, habe sie keine Wut auf sie. Denn sie boten ständig die Hand zur Versöhnung an. Es sei eine andere Zeit heute, so lautet das Kredo von Renata Pavelková. Die Versöhnungsbereitschaft sei tief in ihr verankert und werde im Laufe ihres langen Lebens immer stärker, sagt sie:

„Ich fühle keinen Hass gegen die deutsche Nation. Ich halte sie vielmehr für eine außerordentlich gute. Das, was geschehen ist, war ein Resultat der damaligen Zeit. Die Menschen erlagen einer Panik. Meine Botschaft ist: Ich will nie mit jemandem im Streit sein. Ich hatte auch mein ganzes Leben lang keine Streitigkeiten. Ich wünsche mir, dass alle Menschen daran denken, dass die Kommunikation nur auf gutem Weg funktioniert. Nicht anders.“