„Kristallnacht“ im Sudetengebiet – Massenflucht jüdischer Bewohner
Im November 1938 brannten die Synagogen, wurden jüdische Häuser und Geschäfte überfallen und Juden verhaftet und getötet – und das nicht nur in Deutschland. Auch im nordböhmischen Reichenberg (Liberec), im westböhmischen Karlsbad (Karlovy Vary) oder im schlesischen Troppau (Opava), kurz in den Sudetengebieten, gab es die Pogromnacht, im Volksmund „Reichskristallnacht“ genannt. Sechs Wochen zuvor war die Macht in den Sudeten an Hitlerdeutschland gefallen. Das Münchner Abkommen von Ende September 1938 hatte geregelt, dass die Tschechoslowakei die Gebiete an Hitler abtreten musste. Die Kristallnacht im Sudetenland, das ist das Thema unseres heutigen Kapitels aus der tschechischen Geschichte, das Till Janzer vorbereitet hat. Wir knüpfen an einen Beitrag zu diesem Thema an, den wir im vergangenen Jahr gesendet haben.
Am 9. und 10. November 1938 fanden im ganzen nationalsozialistischen Staat antijüdische Pogromnächte statt. Organisiert waren sie überall von der SA und der SS. Mehr als 1000 Synagogen wurden zerstört, 30.000 Menschen verhaftet; 400 Juden wurden getötet. Den Anlass für die Gewaltwelle lieferte das Attentat auf den deutschen Gesandten in Paris, Ernst von Rath. Der Attentäter Herschel Grynszpan war Jude. Von Rath erlag seinen Schussverletzungen am 9. November. Mit dem darauf folgenden Pogrom begann die systematische Verfolgung der Juden in Europa – mit schlimmen Folgen für die Sudetengebiete, wie Historiker Michal Frankl erläutert:
„Im Sudetengebiet waren die Folgen vielleicht noch stärker zu spüren als anderswo in Deutschland. Der Grund dafür ist die allgemeine Situation: die Begeisterung der Bevölkerung – oder zumindest eines Teils der Bevölkerung- nach dem Münchner Abkommen und die Erleichterung, dass es zunächst nicht zu einem Krieg gekommen ist. Zudem vollzog sich die Ausschaltung der Juden aus der Gesellschaft – die ´Arisierung´ des jüdischen Eigentums – in den neu besetzten Gebieten sehr schnell. Und es wurde viel brutaler als anderswo vorgegangen.“
Vor dem Münchner Abkommen lebten etwa 25.000 bis 28.000 Juden in den Sudetengebieten. Bereits nach dem Einmarsch Hitlers Anfang Oktober kommt es zu Gewaltakten gegen sie.
„Wir wissen auch, dass bereits vor der Kristallnacht vielleicht die Hälfte der Juden aus den Sudetengebieten ins Landesinnere floh. In der Folge wurde schon zu diesem Zeitpunkt ein Teil der Synagogen geschlossen. Oder es gab Orte, in denen die jüdische Gemeinde nicht mehr funktionierte, weil die Leitung – der Rabbiner – und der Präses der Gemeinde schon geflohen waren. Und dann kommt die Kristallnacht. In der Folge sind die jüdischen Gemeinden in den Sudetengebieten mehr oder weniger zerstört. Danach bleibt nur noch ein kleiner Teil von etwa 20 Prozent der jüdischen Bewohner in diesen Gebieten“, so Michal Frankl, der den Forschungsbereich Holocaust im Jüdischen Museum in Prag leitet.Auch im kleinen nordböhmischen Ort Bruch bei Brüx (Lom bei Most) kam es am 9. November zum Pogrom. Dort lebte die Familie von Ela Weissberger. In einem Interview für das Prager Jüdische Museum hat sie vor einiger Zeit die Erlebnisse geschildert, die in ihre Kinderzeit fielen:
„Ich glaube, dass war der schlimmste Tag in meinem Leben. Unser Vater war nicht mehr bei uns. Sofort als die Deutschen in die Sudetengebiete einmarschiert waren, war er von der Gestapo vorgeladen worden. Er hatte ganz oben auf der Liste der Feinde des Deutschen Reiches gestanden. Er hatte schließlich verkündet, dass er 10.000 Kronen an jenen zahle, der Hitler töte. Danach haben wir ihn nie mehr wieder gesehen und auch nicht erfahren, was mit ihm passiert ist.“
Dann der 9. November: Die Familie von Ela Weissberger wurde am Abend des Tages noch von einem Freund des Vaters vor dem bevorstehenden Pogrom gewarnt. Doch die Mutter glaubte nicht daran, bis sich die Nazis dem Haus näherten, wie Ela Weissberger sagt:
„Ich höre bis heute die Trommeln, wie die Hitlerjugend marschierte und vom unteren Ortsteil bis zu uns herauf trommelte. Als sie unserem Haus näher kamen und „Juden raus, Juden nach Palästina“ schrieen, zog uns unsere Mutter aus dem Bett.“ Unsere Tante übernachte gerade bei uns und meine Mutter rief: ´Komm, komm, Greta, wir müssen uns verstecken.´ Sie steckte all ihre Wäsche ins Nachthemd und wir flüchteten auf den Dachboden.“
Danach schlugen die Nazis die Scheiben des Hauses ein, einige stiegen auch in die Wohnung und zerschlugen einen Teil der Porzellansammlung. Die Familie blieb in großer Angst auf dem Dachboden. Am nächsten Tag wurde Ela Weissbergers Mutter zur Gestapo-Hauptstation in Oberleutensdorf (Litvínov) zitiert:
„Dort gaben sie ihr ein Ultimatum von 24 Stunden. Bis dahin mussten wir den Ort und unser Haus verlassen. Sie sagten, die Grenze zwischen Böhmen und den Sudeten sei bis sechs Uhr Abends offen. Falls wir bis dahin die Grenze nicht passiert hätten, würden wir nach Dachau müssen.“
Die Flucht gelang jedoch – wenn auch knapp. Erst kurz vor sechs passierte die Mutter mit den zwei Töchtern die Grenze bei Lovosice an der Elbe. Sie hatte ein Motorrad mit Beiwagen nehmen müssen, und steuerte den Onkel in Prag an.
Doch längst nicht allen Juden, die aus den Sudetengebieten flüchteten, gelang der Grenzübertritt auf Anhieb. Prag bereitete damals erste antijüdische Gesetze vor. Zudem war die tschechoslowakische Regierung bereits vor dem Münchner Abkommen von der zunächst weitestgehend liberalen Einwanderungspolitik abgeschwenkt. Sie fuhr nun einen restriktiven Kurs. Als Österreich im März 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, riegelte die Tschechoslowakei ihre Grenze innerhalb weniger Stunden ab. Man verwies darauf, dass die österreichischen Flüchtlinge ausländische Flüchtlinge waren. Doch im Herbst 1938 war die Lage anders. Historiker Michal Frankl:
„Die Juden, die nach dem Münchner Abkommen oder nach der Kristallnacht an die Grenzen kommen, das sind eigentlich tschechoslowakische Staatsbürger, beziehungsweise ehemalige tschechoslowakische Staatsbürger. Daran lässt sich sehen, wie schnell sich tschechoslowakische Politiker zu dieser Zeit zu antijüdischer Politik drängen ließen. Nach der Kristallnacht haben dann die Behörden eine Instruktion herausgegeben, dass Juden, die Heimatrecht auf der anderen Seite der Grenze haben, nicht ins Landesinnere gelassen werden sollten. Und das ist dann auch wirklich passiert. Es ist zu schrecklichen Szenen gekommen an der improvisierten Grenze, die eigentlich eher eine Demarkationslinie war. Sehr viele Gruppen wurden hin und her geschickt zwischen den Grenzposten der beiden Staaten, Familien mussten irgendwo auf den Feldern an der Grenze leben. Später sind dann doch die meisten Juden nach Prag oder ins Landesinnere gekommen. Die Grenze ließ sich nicht gut bewachen. Viele hatten auch Freunde oder Verwandte in der Tschechoslowakei, die sich um sie kümmern konnten. Und letztlich gab es zudem Druck der westlichen Mächte – vor allem aus Großbritannien –, die jüdischen Flüchtlinge ins Land zu lassen.“
70 Jahre sind seit diesen Ereignissen vergangen. Doch erforscht ist dieser Teil der tschechisch-deutschen Geschichte noch vergleichsweise wenig. Wie auch in Deutschland selbst gibt es kaum Quellen aus den Amtsstuben, denen die Historiker trauen könnten. Dies ist aber nur eine der Hürden.
„Zudem gibt es für das Sudetenland nur wenige Zeugenaussagen und nur wenige Fotos, die die Gewalttaten dokumentieren könnten. Zum Teil hat es meiner Ansicht nach damit zu tun, dass die Bevölkerung aus den Gebieten fast völlig verschwand. Die Juden sind geflohen, wurden später deportiert und starben während des Holocausts. Die Sudetendeutschen wurden nach dem Krieg vertrieben und eine Erinnerung an die Kristallnacht gehörte ganz sicher nicht zu den wichtigsten Themen in der sudetendeutschen narrativen Geschichte. Das kann man verstehen: Das eigene Leiden wurde natürlich stärker empfunden als das der Juden.“
Das Jüdische Museum in Prag hat zwar insgesamt etwa 1100 Zeitzeugen-Aussagen von Juden gesammelt, die den Holocaust überlebt haben. Doch nur zwei davon dokumentieren ausführlich die Reichspogromnacht im Sudetenland.
„Das zeigt uns, dass das kollektive Gedächtnis über diese Ereignisse verloren gegangen ist. Es funktioniert nicht ganz so, wie es sollte.“
Weitere Informationen zum Thema unter www.holocaust.cz.