November 1938 - die "Kristallnacht" im Sudetenland

Kristallnacht

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die so genannte Reichskristallnacht. In ganz Deutschland brannten die Synagogen; jüdische Häuser und Geschäfte wurden überfallen und geplündert, zehntausende Juden verhaftet, hunderte ermordet oder in den Tod getrieben. Kaum einen Monat zuvor hatte Hitlerdeutschland mit der Unterzeichnung des Münchener Abkommens und der Besetzung des Sudetenlandes einen seiner größten Triumphe gefeiert. Über die Kristallnacht im Sudetenland sprach Thomas Kirschner mit dem Historiker Michal Frankl.

Michal Frankl  (Foto: CTK)
Die im Licht der Laternen glitzernden Splitter der zerbrochenen Fensterscheiben waren es, die der so genannten "Reichskristallnacht" ihren verharmlosenden Namen gaben. Die nüchterne Bilanz des Terrors: mehr als 1000 zerstörte Synagogen und Betstuben, rund 30.000 Verhaftungen, etwa 400 jüdische Tote. Ausgrenzung und Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung steigerte sich erstmals offen zu systematischer Gewalt. Und das auch in den Sudetengebieten, die nach dem Münchener Abkommen erst in den ersten Oktobertagen 1938 an das Reich angeschlossen worden waren.

"Die Kristallnacht lief in den Sudetengebieten nach einem ganz ähnlichen Muster wie im Altreich ab. Es handelte sich um ein von Staat und Partei organisiertes Pogrom. Auch im Sudetenland brannten die Synagogen; auch im Sudetenland wurden jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt und jüdische Geschäfte geplündert",

weiß der Historiker Michal Frankl vom Institut Theresienstädter Initiative, das sich mit der Aufarbeitung und Vermittlung des Holocaust in den böhmischen Ländern befasst. Allerdings werden die Ereignisse der Nacht bislang meist nur für das so genannte "Altreich" oder für Österreich untersucht:

"Es gibt nicht genügend Forschung dazu - die Kristallnacht in den Sudetengebieten wurde bislang nur unzureichend beachtet. Vor kurzem ist zum Beispiel ein Buch des britischen Historikers Martin Gilbert über die Kristallnacht in tschechischer Übersetzung herausgekommen, und in diesem Buch wird nicht einmal erwähnt, das dieses Pogrom auch im Sudetenland stattgefunden hat. Das ist für die Forschung bislang ganz typisch."

Kristallnacht
Anlass für die Pogrome hatte die Ermordung des Legationssekretärs Ernst Eduard vom Rath durch den Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris gegeben. Die von den NSdAP-Gliederungen organisierten Pogrome wurden als spontane Äußerungen des Volkszorns ausgegeben. Während die Terrorwelle in Deutschland ihren Höhepunkt in der Nacht des 9. November hatte, erreichte sie die Sudeten flächendeckend erst einen Tag später, wie Michal Frankl berichtet.

"Man könnte zum Beispiel Karlsbad nennen, Reichenberg, Troppau, Böhmisch Leipa und viele andere Orte. Soweit ich weiß, ist es in allen Städten zu Pogromen gekommen, in denen es eine größere jüdische Minderheit gab. In den meisten Städten wurden die Synagogen wirklich zerstört, in einigen zumindest ausgeplündert oder symbolisch beschädigt."

Der Terror kommet in einer Zeit, in der im Sudetenland alles in Bewegung ist. Die NSdAP-Machthaber füllen die Leerstellen, die die abziehende tschechoslowakische Verwaltung hinterlassen hat, örtliche Funktionäre kämpfen um Einfluss und Pfründe, Nazi-Gegner und NS-Verfolgte müssen Hals über Kopf ihre Heimat verlassen. Die systematischen antisemitischen Diskriminierungen, die im Reich seit 1933 Schritt für Schritt eingeführt wurden, werden im Sudetenland innerhalb kürzester Zeit nachgeholt.

"Dazu gehörte auch die sehr schnelle Arisierung des jüdischen Eigentums und das Verdrängen der Juden aus dem öffentlichen Raum. Praktisch bedeutete das, dass schon vor der Kristallnacht ein ganz großer Teil der Juden aus dem Sudetenland ins Landesinnere geflohen ist. Man schätzt, dass von den rund 28.000 Juden, die hier vor dem Anschluss des Sudetengebiete gelebt haben, schon zur Zeit der Kristallnacht nur noch 12.000 übrig waren."

Diese Vorgeschichte wirkte sich auch daraus auf, wie der Terror der Kristallnacht im Sudetenland erlebt wurde. Gerade darin, so meint Michal Frankl vom Institut Theresienstädter Initiative, liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den Pogromen im Altreich und in den neu angeschlossenen Gebieten:

"Für die Juden in Deutschland war die Kristallnacht der große Schock. Für die Juden in Österreich und in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei war der Schock dagegen schon vorher der Anschluss Österreichs oder das Münchner Abkommen. Die Kristallnacht hat dann für sie die Brutalität des NS-Regimes nur noch einmal bestätigt."

Der eigentliche Ablauf der Pogrome im Sudetenland unterschied sich kaum von den Geschehnissen im Reich. Die erst vor Wochen angeschlossenen Gebiete waren rasch in die Parteistrukturen eingegliedert worden, so der Historiker Michal Frankl:

"Die Befehlsstrukturen reichten nicht nur ein wenig, sondern bereits sehr vollständig bis ins Sudetenland, was bedeutete, dass die Kristallnacht im Sudetenland genau wie im so genannten Altreich von der SA gestartet wurde. Die SA-Männer haben die Synagogen angezündet, die Gewalt in die gewünschten Wege geleitet und oft auch jüdische Männer verhaftet. Spezifisch ist, dass das alles in das Muster der schnellen Änderungen im Reichsgau Sudetenland fällt - Änderungen, die die tschechischen sowie die angeblich schädlichen jüdischen Einflüsse entfernen sollten. Und das in einer Zeit, in der sehr viele Sudetendeutsche immer noch begeistert darüber sind, dass ihre Heimat von Hitlerdeutschland annektiert wurde und sie nicht mehr in der Tschechoslowakei leben müssen. Das ist auch die Zeit, in der viele Sudentendeutsche die Möglichkeit nutzen, sich der NSdAP oder der SA anzuschließen. Spezifisch ist also, dass zu dieser Zeit im Sudetenland alles in Bewegung ist."

Brennende Synagoge  (Foto: CTK)
Wie überall waren auch im Sudetenland die Synagogen das erste und prominenteste Ziel der Brandstifter, berichtet der Historiker Michal Frankl:

"Das ist von daher wichtig, weil die Synagogen, ähnlich wie im so genannten Altreich, die Symbole der jüdischen Emanzipation waren. Es waren zumeist Synagogen aus dem 19. Jahrhundert, im historisierenden oder im maurischen Stil gebaut; sie standen oft in den Zentren, sie waren groß und dominant - in gewisser Weise den christlichen Kirchen ähnlich. Indem man diese Synagogen zerstört hat, hat man auch ein Symbol der Anwesenheit der jüdischen Minderheit zerstört, und damit auch ein Symbol des jüdisch-nichtjüdischen Zusammenlebens."

69 Jahre liegen die Novemberpogrome inzwischen zurück. In Tschechien ist der Jahrestag in diesem Jahr in besonderem Maße ins öffentliche Bewusstsein gebracht worden. Tschechische Rechtsextreme hatten ausgerechnet für den 10. November einen Demonstrationszug durch das Jüdische Viertel Prags angemeldet - vorgeblich, um gegen Auslandseinsätze der tschechischen Armee zu protestieren. In der Öffentlichkeit war das auf überzeugende und breite Ablehnung gestoßen, aber erst nach einem langen juristischen Hin und Her konnte der Umzug letztlich auch verboten werden. Stattdessen sollen nun Kundgebungen an die historischen Ereignisse erinnern.

"Wir sind in einer paradoxen Situation. In Tschechien und früher in der Tschechoslowakei wurde und wird der Jahrestag der Kristallnacht meist überhaupt nicht wahrgenommen. Erst jetzt, durch die geplante Demonstration der tschechischen Rechtsradikalen, rückt das Datum ins allgemeine Bewusstsein. Das ist für mich ein großes Paradox. Vielleicht führt es ja dazu, dass die Öffentlichkeit besser wahrnimmt, dass sich die Ereignisse der Kristallnacht auch auf tschechischem Gebiet abspielte und dass das ein Teil der Geschichte ist, mit dem wir uns beschäftigen sollten."