„Nicky & Vera“: Kinderbuchautor Sís erzählt Geschichte zu Zeiten des Holocaust
„Nicky & Vera“ heißt das neueste Werk des renommierten tschechischen Kinderbuchautors und Illustrators Petr Sís. Es ist anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktages in New York und London erschienen. Radio Prag International hat mit dem in den USA lebenden Künstler gesprochen.
„Nicky & Vera“: Das schöne und bewegende Buch trägt den Untertitel „A Quiet Hero of the Holocaust and the Children He Rescued“, auf Deutsch etwa „Ein stiller Held des Holocaust und der Kinder, die er gerettet hat“. In dem Band sind zwei Erzählungen miteinander verflochten: die Geschichte von Sir Nicholas Winton, dem jungen Briten, der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs 669 hauptsächlich jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei vor den Nazis rettete; und das Schicksal von Vera Gissing, einem der Kinder, die Winton in einen von ihm organisierten Kindertransport-Zug von Prag nach London gebracht hatte.
Der tschechische Künstler Petr Sís lebt seit den 1980er Jahren in Amerika. Zu dem Buch habe ihn eine Reise nach Prag im Jahr 2009 inspiriert. Gemeinsam mit seinem Sohn besuchte er damals eine Ausstellung zum 100. Geburtstag von Sir Nicholas Winton.
„Ich habe Ende der 1980er Jahre kurz von Nicholas Winton gehört. Das war erst drei, vier Jahre nach meiner Auswanderung nach Amerika, also hatte ich ganz andere Probleme. Damals kam mir aber in den Sinn, dass ich seit meiner Kindheit zwei Menschen in Prag kannte, die Freunde meines Vaters waren. Sie erzählten, sie seien in England aufgewachsen und einst mit dem Zug dort hingefahren. Das klang zwar interessant, aber wie bei vielen Dingen und Ereignissen des Zweiten Weltkriegs habe ich nicht weiter nachgefragt. Also wusste ich über kleine Dinge Bescheid, aber erst nach 1988 fügte sich alles zusammen.“
1988 kam die Rettungsaktion in Großbritannien ans Licht. Winton hatte kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs acht Transporte aus der Tschechoslowakei organisiert und insgesamt 669 Kinder per Zug zu ihren Pflegefamilien nach Großbritannien gebracht:
„In den frühen 1990er Jahren sagte mir jemand, dass ich an ein Buch darüber denken sollte. Das Thema ließ sich aber bei amerikanischen Verlagen nur sehr schwer durchsetzen, obwohl die Tschechoslowakei als solche damals relativ stark gefragt war. Ich dachte mir schon, dass die Geschichte sehr gut ist. Sie handelt schließlich von einem Mann, der so gut war, dass er all diese Kinder gerettet hat und dann einfach nach Hause zurückkehrte. Und 50 Jahre lang wusste niemand etwas von seiner Tat.“
Zwei Geschichten in einem Buch
Das Buch, das Petr Sís nun doch endlich geschrieben hat, handelt sowohl von Nicholas Winton als auch von Vera Gissing:
„Ich kannte die Geschichte von Winton, von der ich dachte, sie ließe sich nicht in einem Buch aufgreifen. Doch zufällig stieß ich auf zwei Bücher. Das eine war im Holocaust Memorial Museum in Washington, und zwar ‚Train to Freedom‘ von Ivan Backer. Und das andere war Vera Gissings Buch ‚Pearls of Childhood‘.“
Vera Gissing, gebürtige Věra Diamantová, kommt aus einer Kleinstadt in Mittelböhmen und lebt seit Ende der 1940er Jahre dauerhaft in Großbritannien. Sie ist heute 92 Jahre alt. Petr Sís sagt:
„Es war ein wunderbares Buch, in dem Sinne, dass sie darin als ein optimistisches, unschuldiges kleines Mädchen auftritt. Sie schildert das Leben in ihrem Heimatort und die Begeisterung der Tschechen für ihren 1918 gegründeten Staat. Die Menschen liebten Masaryk und liebten die Idee der Tschechoslowakei. Religion und Politik waren aus ihrer Sicht nicht von Bedeutung. Ihre Familie war eine der wenigen oder die einzige jüdische Familie dort, aber das war nicht wichtig. Sie beschreibt also diese fast idyllische Zeit in der tschechoslowakischen Geschichte. Sie liebte die Natur und schildert, wie sie abends in der Elbe mit ihrem Pferd schwimmen ging. Sie wuchs als glückliches, unschuldiges Kind in dieser Kleinstadt bei ihrer liebevollen Mutter und Familie auf. Und sie wusste nicht, dass ihre Eltern sie vor den schlimmen Nachrichten aus dem Ausland, aus Deutschland schützten.“
Anfang 1939 erfuhr Věras Mutter von Wintons Rettungsaktion und entschloss sich, ihre kleine Tochter für einen Transport zu melden.Der Vater war zunächst dagegen, stimmte aber schließlich zu.
„Die Geschichte von Winton spiegelt die Geschichte Europas: die ‚Reichskristallnacht‘, der ‚Anschluss Österreichs‘, während England das Land ist, das Visa an Kinder unter 17 Jahren vergibt und sie in Pflegefamilien bringt. Nun hatte ich also für mein Buch dieses kleine Mädchen dazu, das emotionale Dinge aus seiner Perspektive beschrieb.“
Im Hintergrund der Erzählung von Petr Sís steht der Holocaust. Doch wie soll man die grausame Mordmaschinerie kleinen Kindern schildern?
„Das Buch wurde an Rezensenten und Kritiker geschickt, und viele von ihnen sagten, sie hätten beim Lesen geweint. Aber an einem Punkt entfachte sich auch ein Streit. Jemand empfahl mir nämlich, das Buch nicht zu veröffentlichen, weil darin das Leid des Krieges nicht genügend geschildert werde. Diese Person sagte, ich hätte mehr davon erzählen sollen, was in den Konzentrationslagern geschah. Eigentlich hatte ich auch mehr Details dazu erzählen wollen, aber der Herausgeber des Buches und meine Frau haben mir davon abgeraten. Zudem würde es der Perspektive von Věra nicht entsprechen, die davon ja gar nichts wusste. Sie besuchte eine tschechische Schule in Wales und bekam keine Nachrichten von zu Hause. Die Kinder dort hörten 1943 zum ersten Mal davon, dass es Lager gebe, in denen Deutsche Menschen ermorden. Und sie hoffte, dass sich ihre Eltern davor retten könnten. Dann kam das Kriegsende, ihre Mutter wurde in Bergen-Belsen befreit, starb aber einige Tage später an Typhus. Ich denke, dass es im Hintergrund meines Buches ein Gefühl des Grauens gibt, auch wenn ich nicht direkt darüber spreche. Denn ein Kind kann nicht begreifen, warum es nach Hause kommt und niemand dort ist.“
Věra Diamantová kehrte nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurück und wollte dort auch bleiben, obwohl ihre Familie im Holocaust ermordet wurde. Sie fand aber nicht mehr den schönen Ort vor, den sie als kleines Kind kannte. Inzwischen fühlte sie sich in Großbritannien mehr zu Hause, also siedelte sie 1948 endgültig dorthin über.
Was hofft Petr Sís als Autor, dass die Leser von seinem Buch „Nicky & Vera“ in Erinnerung behalten?
„Ich habe darüber viel mit meinem Sohn diskutiert. Wenn man etwas bewirken kann, wenn man an einem Moment etwas tun kann: Soll man es dann tun? Es gab hier also diesen Nicholas Winton, der nichts mit Prag zu tun hatte, und er sagte: ‚Moment mal – diese Kinder sind in Gefahr, ich werde ihnen helfen.‘ Alle behaupteten aber, sie seien nicht in Gefahr, es sei alles in Ordnung. Und er machte es trotzdem. Das ist also die wichtigste Lehre aus meiner Geschichte, denke ich. Eine andere Lehre ist der Kontext, aus dem ich heute schöpfen kann, auch wenn ich ihn mit den Nazi-Kundgebungen oder der Kristallnacht nur am Rande erwähne. Es gibt Zeichen, die wir aus der Geschichte kennen und die dem entsprechen, was heute hier geschieht. Man kennt diese Zeichen und sagt trotzdem, das seien nur verrückte Menschen, die sich als Comicfiguren verkleidet hätten und in ein Regierungsgebäude gekommen seien. Aber in zehn Jahren kann alles Mögliche daraus werden. Es gibt also kleine Dinge. Als gäbe es kleine Schnipsel, die meiner Meinung nach in gewisser Weise lehrreich sind. Und wenn man sie zusammensetzt, kann dies für jemanden von Bedeutung sein. Und wenn nicht, dann habe ich es zumindest versucht."
„Nicky & Vera: A Quiet Hero of the Holocaust and the Children He Rescued“ heißt das Buch von Petr Sís und ist am 27. Januar in den USA und in Großbritannien erschienen. Im Herbst soll es in Tschechien, aber auch in Deutschland, Frankreich und China auf den Markt kommen.