Der Heilige Wenzel
Seit nun mehr zwei Jahren ist der 28. September in der Tschechischen Republik ein Feiertag. An diesem Tag soll der böhmische Fürst Vaclav bzw. Wenzel von seinem Bruder Boleslav im Jahre 929 oder 935 ermordert worden sein. Noch heute sind sich die Historiker nicht ganz sicher, in welchem Jahr dieser Brudermord in Stara Boleslav - Altbunzlau bei Prag geschah. Diskussionen wurden vor zwei Jahren aber nicht über das Todesjahr des heiligen Wenzels geführt, sondern darüber, welche Bedeutung der Landespatron für die Tschechische Republik hat und hatte und ob er es wirklich verdient, einen eigenen Feiertag zu bekommen. Die Politiker waren sich damals nicht einig, ob Fürst Wenzel als Staatsgründer zu verehren oder aber als Kolaborant zu verdammen sei. Bemühen wir uns also, Ihnen Fürst Wenzel ein wenig vorzustellen.
Fürst Wenzel lebte im 10. Jahrhundert. Das war das Jahrhundert, in dem sich die Macht auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik langsam von Mähren nach Böhmen verlagerte. Das sagenhafte Grossmährische Reich ging unter, die böhmischen Fürsten dagegen konnten ihren Einfluss und ihre Macht vergrössern. Zu kämpfen hatten sie allerdings immer wieder gegen deutsche Herrscher. Diese bemühten sich, von Slawen besiedelte Gegenden mit Hilfe der Missionierung zu unterwerfen. Im Falle Böhmens hatten sie aber Pech: Fürst Borivoj, Wenzels Grossvater war der erste böhmische Fürst, der sich hatte taufen lassen - und dieses um das Jahr 870 am grossmährischen Hofe von keinem geringeren als dem Slawenapostel Method. So stand Böhmen zu Beginn des 10. Jahrhunderts zwischen den Fronten; zwischen dem Grossmährischen Reich und dem Deutschen Reich sowie zwischen der von Regensburg ausgehenden Missionierung und der von Grossmähren kommenden slawischen Liturgie.
Als Fürst Vratislav 921 verstarb, waren seine beiden Söhne Vaclav-Wenzel und Boleslav minderjährig. Um die Nachfolge auf dem Premyslidenthron stritten zunächst zwei Frauen: Drahomira, die Gattin Vratislavs und Mutter der beiden Söhne und Ludmila, die Grossmutter der beiden und Mutter des verstorbenen Vratislav. Es scheint, dass Schwiegertochter und -mutter sich nicht gerade mochten. Vielleicht störte Drahomira der Einfluss, den Grossmutter Ludmila auf den Thronfolger Wenzel hatte. Ludmila war es gewesen, die Wenzel Lesen und Schreiben beigebracht hatte, Fähigkeiten, über die im 10. Jahrhundert wenige Herrscher verfügten. Zudem machte Ludmila den jungen Wenzel mit der christlichen Religion vertraut. Sie selbst hatte gemeinsam mit ihrem Gatten Borivoj am grossmährischen Hof die Taufe empfangen.
Der Streit zwischen Drahomira und Ludmila gipfelte noch im Herbst des Jahres 921. Drahomira löste ihn recht rabiat zu ihren Gunsten: In der Nacht zum 16. September 921 sandte sie eine Gefolgschaft nach Tetin, dem unweit von Prag gelegenen Sitz der Ludmila, und liess diese kurzerhand ermorden. Drei Jahre erfreute sich Drahomira ihres Sieges und regierte in Prag. 924 übernahm dann ihr Sohn Wenzel die Geschäfte. Diesen scheint der Tod seiner Grossmutter sehr betrübt zu haben, denn er liess ihre Gebeine nach Prag überführen. Als Märtyrerin ging Ludmila in die Geschichte ein und wurde die erste böhmiche Heilige und Landespatronin. Ihr Enkelsohn sollte ihr bald folgen.
Nachdem Heinrich von Sachsen 921 die Macht im Deutschen Reich errungen hatte, machte er sich daran, die östlichen Nachbarn zu unterwerfen. Beim christlichen Wenzel soll er um das Jahr 928 sogleich Erfolg gehabt haben: dieser soll sich kampflos ergeben und sich zu Tributzahlungen verpflichtet haben. Eine Tat, die damals wie heute viel Kritik hervorrief bzw. -ruft. Wohl als Dank erhielt Wenzel von Heinrich von Sachsen eine Reliquie des sächsischen Heiligen Veit. Diese wurde in der neuen Kirche auf der Prager Burg aufbewahrt - und so bekam der heutige Veitsdom seinen Namen.
Über Wenzel selbst und seine Regierung ist wenig bekannt. Schriftliche Quellen aus jener Zeit existieren nicht. Die Wenzel-Legenden entstanden zu späteren Zeiten und verklären den böhmischen Fürsten. Sicher scheint, dass Wenzel während seiner Regierungszeit die Christianisierung des Landes vorangetrieben hat. Wenzel selbst soll sehr religiös und asketisch gelebt haben. Ausserdem soll er sehr freigiebig und gerechtigkeitsliebend gewesen sein. Wenzel soll sogar befohlen haben, in seinem Herrschaftsgebiet alle Galgen zu zerstören. Geherrscht hat Wenzel wahrschienlich über ein Gebiet, dass sich in einem Umkreis von 30-40 Km um Prag erstreckte. Als führender Fürst wurde Wenzel von anderen böhmischen Herrschern anerkannt. Unklar ist bis heute, ob Wenzel am 28. September des Jahres 929 oder 935 von seinem Bruder umgebracht wurde. Unklarheit herrscht auch beim Tatmotiv. Mittelalterliche Chronisten mutmassten und spekulierten darüber ebenso wie heutige Historiker.
Die einen deuten den Mord als Reaktion auf die starke Religiosität Wenzels, die ihn von Regierungsgeschäften abgelenkt haben soll. Andere vermuteten hinter der Ermordung den Einfluss des deutschen Reiches. Wieder andere vermuteten, dass Boleslav die Tat aus Patriotismus verübte, da ihm die Tributzahlungen an das Deutsche Reich und die deutschfreundliche Politik seines Bruders nicht gefiel. Schliesslich bleibt noch eine recht banale Erklärung: Wenzel fiel einer fast alltäglichen Erscheinung des Mittelalters zum Opfer: dem Machtkampf innerhalb eines Herrschergeschlechts. Insbesondere jüngere Brüder und übersehene Neffen neigten dazu, sich übergangen zu fühlen und verhalfen sich selbst zur Macht, indem sie den gerade Regierenden ermorderten - bestraft wurden sie dafür eigentlich nie.
Boleslav regierte nach der Ermordung seines Bruders über 30 Jahre lang in Böhmen - und man kann sagen erfolgreich. Seine Politik trug zum Aufstieg Böhmens zu einer anerkannten Macht in Mitteleuropa bei. Boleslav stärkte den Staat im Inneren und vergrösserte dessen Einflussgebiet erheblich. Als er 967 starb, gehörte zu seinem Herrschaftsgebiet nicht nur Böhmen, sondern auch Mähren, Teile der Slowakei und Krakau. Zudem legte Boleslav den Grundstein dafür, dass Prag 973 zum Bistum ernannt wurde. Eines hat Boleslav jedoch nicht erreicht: die Unabhängigkeit vom Deutschen Reich. Nach einigen Jahren Krieg unterlag der böhmische Fürst 950 Otto dem Grossen endgültig. Boleslav musste sich zu Tributzahlungen verpflichten. Bald stieg der Prager Fürst zu einem Verbündeten des deutschen Königs auf. 955 unterstützte Boleslav Otto I. in der Schlacht auf dem Lechfeld und trug zum Sieg über das heidnische Reitervolk der Magyaren bei.
Im Gegensatz zu vielen anderen mittelalterlichen Herrschern, die irgendwann ermordert wurden, versank Wenzel nicht in Vergessenheit - im Gegenteil. Nach seinem gewaltsamen Tode begann seine eigentliche Karriere als böhmischer Landespatron und Heiliger. Die erste schriftliche Wenzellegende entstand noch zu Lebzeiten seines Bruders und Möders. Dieser soll seine Tat später bereut haben und die Gebeine Wenzels in den Veitsdom überführt haben lassen. Kurz darauf waren die ersten Nachrichten von Wunderheilungen zu hören. Der Kult des Heiligen Wenzels begann. Dieser verhalf dem Premysliden-Geschlecht, zu dem Wenzel und Boleslav gehörten, zu seiner ausserordentlichen Stellung in Böhmen, denn kein anderes böhmisches Geschlecht konnte einen Heiligen vorweisen. Auch Prag profitierte vom Wenzelskult und wurde zum anerkannten Symbol der Macht der Premysliden in Böhmen und darüber hinaus. Der erste böhmische Heilige diente damals den böhmischen Fürsten sozusagen als Legitimation für den Beitritt Böhmens in die Gesellschaft der christlichen Staaten.
So trug Wenzel als Toter zur Anerkennung des Böhmischen Staates bei, während sein Bruder Boleslav dieses als lebendiger Herrscher tat. Heute sind sich die Historiker eigentlich einig, dass Fürst Boleslav als Gründer des böhmischen Staates anzusehen ist, dass aber die Legende und der Kult um den heiligen Wenzel dabei eine grosse Rolle spielten. Bereits Ende des 10. Jahrhunderts wurde Wenzel als übermächtiger Herrscher betrachtet, der das Geschehen im Lande vom Himmel aus beobachtet und im Notfall eingreifen kann. Im 13. Jahrhundert wurde Wenzel dann als Befreier Böhmens vom Deutschen Joch gefeiert. Die Hussiten sangen im 14. Jahrhundert während ihrer Schlachten Lieder über den Heiligen Wenzel.
Als der böhmische König und deutsche Kaiser Karl IV. im 14. Jahrhundert eine neue böhmische Königskrone anfertigen liess, zweifelte er keine Minute an deren zukünftigem Namen: Wenzelskrone hiess von da an die Krone der böhmischen Könige. Die Symbolgewalt des hl. Wenzels wirkt erstaunlicherweise bis heute. Die Statue des heiligen Wenzels auf dem Prager Wenzelsplatz spielte im 20. Jahrhundert eine grosse Rolle für die meisten Tschechen. Wann immer etwas Entscheidendes passierte, sammelten sich die Tschechen um die bekannte Reiterstatue auf dem Prager Wenzelsplatz - dies war bei der Staatsgründung 1918 ebenso der Fall wie nach der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen 1939, während des Prager Frühlings 1968 und der Samtenen Revolution 1989 - immer sammelte man sich zu Füssen des heiligen Wenzels - und bestimmt ist dies kein Zufall. Der Senatspräsident Petr Pithart verwies vor zwei Jahren auf diese Tatsache, Zitat:"Dieser Magnet, der uns zum Landespatron zieht, befindet sich wahrscheinlich wirklich in den tiefsten Ebenen des tschechischen Staatsgebäudes. Er ist es, der uns verbindet, uns zusammenhält, der uns von Zeit zu Zeit das Gefühl verleiht, dass etwas wie ein "wir" exisistiert."
Über diesen böhmischen Heiligen, über den eigentlich recht wenig bekannt ist, stritten sich also vor zwei Jahren die tschechischen Politiker - und dieses recht heftig. Der damalige tschechische Premier Milos Zeman bezeichnete ihn als Kolaboranten, da er sich Heinrich von Sachsen freiwillig unterwarf und Tributzahlungen leistete. "Sollte der 28. September Feiertag werden, so würde nicht der tschechische Staatssinn gefeiert werden, sondern Servilität und Kolaboration", erklärte Zeman damals in einer Parlamentsdebatte und erntete erzürnte Proteste. Denn der Heilige Wenzel bzw. der Kult um ihn waren und sind für die Tschechen von grosser Bedeutung. Der tschechische Premier wurde damals im Parlament überstimmt und so ist der 28. September seit dem Jahre 2000 der St. Wenzels-Tag, der Feiertag der tschechischen Staatsidee. Und damit sind wir am Ende des heutigen, feiertaglichen Geschichtskapitels.